Texte aus: Forum Psychosomatik der Stiftung Lebensnerv
mit freundlicher Genehmigung von Dr. Sigrid Arnade.
Bitte auch auf die Homepage der Stiftung Lebensnerv gehen,
wo man online Artikel lesen und auch spenden kann.
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Forum Psychosomatik Winter 1993/94
Zerstören oder zerstört werden - Aggressionen bei der psychotherapeutischen Behandlung der MS, Irene Misselwitz
Dr. med Irene Misselwitz, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Ärztin für Psychotherapie, arbeitete als Oberärztin an der Uniklinik für Psychiatrie und Neurologie Hans Berger in Jena. Bei dem Symposium der Stiftung im Oktober 1992 in Kassel sowie bei der Veranstaltung in der blisse 14 in Berlin im November 1993 hielt sie den nachfolgenden Vortrag.
Die MS hat mich schon von klein auf beschäftigt. Meine Großmutter, eine gewaltige Frau, ehemals aus ärmlichen, bäuerlichen Verhältnissen stammend, wurde in ihren mittleren Jahren von dieser geheimnisvollen Krankheit befallen. Mein Großvater, ein preußischer Beamter, der seine schöne, tüchtige Frau zum Repräsentieren brauchte, ließ sich nach der Flucht aus Ostpreußen von ihr scheiden. Da er zu aufwendigen Unterhaltszahlungen verpflichtet war, befragte er den behandelnden Arzt, wie lange seine ehemalige Frau wohl noch leben würde. Der Arzt beruhigte ihn mit den Worten "höchstens 2-3 Jahre". Die Krankheit verlief während der Kriegs- und Fluchtjahre rasch progredient, so daß diese Einschätzung einleuchtend erschien.
Mein Großvater teilte ihr hocherfreut die ärztliche Prognose mit, was bei meiner Großmutter allerdings die entscheidende Wende beim Krankheitsverlauf einleitete. Wie oft habe ich sie in meiner Kindheit erzählen hören, daß in diesem Moment ein unbändiger Zorn und Lebenswille in ihr aufgestiegen sei und sie sich geschworen habe, "Na warte, ich werde Dich überleben!". Sie hat Recht behalten. Sie lebte noch über 40 Jahre im Rollstuhl und h at während der ganzen Zeit erfolgreich um Unterhaltszahlungen gegen meinen Großvater prozessiert und damit uns im Osten unterstützt. Beide starben hochbetagt an Krebs, sie eineinhalb Jahre nach ihm, im inneren Frieden und mit Gottvertrauen, mit 84 Jahren.
Ich habe sowohl in der Literatur als auch im Kontakt mit MS-Kranken häufig bestätigt gefunden, daß u.a. der Umgang mit Aggressionen von zentraler Bedeutung für den Verlauf dieser Erkrankung ist.
Umgang mit Aggressionen
Es geht ums Zerstören oder Zerstört werden, d.h. entweder kann der Kampf um das eigene Lebens- und Überlebensrecht aufgenommen werden, oder die Krankheit nimmt einen zerstörerischen Verlauf. Ich möchte diese These anhand des psychotherapeutischen Behandlungsverlaufes eines jungen Mannes mit einer chronisch progredienten MS untermauern.
Es handelt sich um einen 35jährigen Mathematiker, der im November 1987 in die stationäre Psychotherapie-Abteilung der Universitäts-Nervenklinik Jena überwiesen wurde. Es wurde zunächst 12 Wochen stationär und dnan überwiegend ambulant nachbehandelt. Die neurologische Diagnostik und Behandlung übernahm die neurologische Abteilung unserer Klinik. Seit 1987 wurden noch mehrere kurze stationäre Aufenthalte notwendig, zum Teil zu Krisenintervention, zum Teil nach Auftreten eines frischen Schubes.
Nun zur Vorgeschichte: Der Patient stammt aus sozial schwierigem Milieu, der Vater ist Alkoholiker. Die Ehe der Eltern wurde früh geschieden, der Patient fühlt sich jedoch bis heute ständig von beiden Eltern ausgenutzt und hin und her gerissen. Er war ein wildes aggressiv-trotziges Kind, hatte im Betragen die Note 4, aber sonst sehr gute Schulleistungen. Von der Jugendweihe an lernte er, innere Spannungen, Aggressionen und Enttäuschungen mit Alkohol zu betäuben und war etwa vom 17. Lebensjahr an abhängig. Studium, Eheschließung, Geburt der Tochter, Arbeit in einem Jenaer Großbetrieb verliefen äußerlich normal, waren jedoch durch Alkohol und Ehekonflikte stark belastet.
1982, im 29. Lebensjahr, trat der 1. MS-Schub auf mit einer spastischen Paraparese (unvollständige Lähmung) der Beine, einer spinalen Ataxie (rückenmarksbedingten Koordinationsstörung), einer Hypasthesie (herabgesetzte Empfindung von Berührungsreizen) beider Hände und Füße und Sehstörungen. Nach stationärer Behandlung mit Prednisolon in unserer neurologischen Abteilung war er völlig frei von Symptomen. 1984 trat der 2. Schub auf, der dann in einen chronischen Verlauf mit leichter Progredienz überging. Das verstärkte die tiefe Lebensunzufriedenheit des Patienten, und er bat nach zwei Jahren um ambulante psychotherapeutische Mitbehandlung. In der Poliklinik diagnostizierte die Psychologin sehr schnell den Alkoholismus, und der Patient ist seitdem "trocken". Nun trat die chronisch depressive Symptomatik und Suizidalität (Selbstmordgefährdung) noch deutlicher in den Vordergrund, was schließlich zur Einweisung zu uns führte. Diagnostisch handelt es sich also um eine chronisch progrediente MS, um einen Alkoholismus in der kritischen Phase und eine neurotische Entwicklung bei schizoid-hysterischer Persönlichkeitsstruktur.
Der Behandlungsverlauf soll anhand von Bildern des Patienten verdeutlicht werden: In der Abbildung "Mein Leben" sieht der Patient zu Beginn der Behandlung seine Situation: Durch einen unüberwindlichen Riesenberg ist er von Familie und Kind, die das Wichtigste für ihn sind, getrennt. Er selbst hat das Gefühl, von riesigen Felsbrocken erschlagen zu werden. Neurologisch weist er zu diesem Zeitpunkt folgende Symptome auf: Rechts betonte leicht spastische Paraparese der Beine, Benommmenheit sowie Verschwommensehen.
Technik der Visualisierung
Die stationäre und später ambulante Einzelbehandlung erfolgt hauptsächlich durch:
1. Informationsvermittlung über die MS und krankheitsgerechtes Verhalten und Krankheitsbewältigung. Dazu gehört auch die Invalidisierung und Aufnahme einer Teilbeschäftigung, die zunächst für den Patienten eine schwere narzistische Kränkung darstellt.
2. Analytische Einzeltherapie oder, wie wir in der DDR wegen der offiziellen Diskriminierung der Psychoanalyse sagen mußten: Dynamische Einzeltherapie
3. Autogenes Training mit Visualisierung
4. Spezielles Yoga-Programm für MS-Kranke
Die Technik der Visualisierung verläuft folgendermaßen: Der Patient erlernt das autogene Training. Er wird über die physiologischen Abläufe der Erkrankung und ihrer Heilung informiert. Dann entwickelt er mit Unterstützung des Therapeuten ganz individuelle, für ihn verständliche Analogien zu den physiologischen Heilungsvorgängen. Dies ist oft eine lange Arbeit. Diese Bilder stellt er sich dann im autogenen Zustand intensiv vor, 20 Minuten oder länger.
Den Charakter der Visualisierung können wir an den danach angefertigten Bildern gut erkennen: Auf Abbildung 2 sieht man die Darstellung der Visualisierung am Anfang der Behandlung. Der Körper ist unvollständig, irgendwie verletzt, zerrissen mit blutroten Nervensträngen gemalt. Ähnlich, wie bei einer Autowaschanlage streichen Bürsten mit Balsam über die krankheitszerfressenen Nervenscheiden. Man sieht sehr schnell die Autoaggressivität in diesem Bild. Darauf angesprochen, berichtete der Patient nach einigem Zögern, daß sich immer wieder Messer in seine Vorstellung einschlichen. Erst die Fortschritte in der dynamischen Einzeltherapie, in der er zunehmend lernte, in der therapeutischen Beziehung auch seine aggressiven Anteile auszudrücken und anzunehmen, machten es ihm möglich, Vorstellungen mit überzeugender Heilkraft zu entwickeln.
Auf der Abbildung 3 sehen wir ein Traumbild. Der Patient träumte immer wieder, wie er auf einen großen, schwarzen, zottigen, traurigen Hund einschlug und dann tieftraurig, manchmal weinend aufwachte. Er möchte ihn eigentlich wie hier streicheln können, was für ihn so viel bedeutet, wie seine eigenen dunklen Seiten annehmen zu können. So sieht der Patient sienen Körper beim Visualisieren zum Zeitpunkt der Entlassung Anfang Februar 1988: Der Körper ist vollständig, klar und in freundlicheren Farben gemalt. Auch der Schwamm mit Heilbalsam wirkt nicht mehr zerstörerisch. Zu gleicher Zeit malte er folgendes Bild: Wir sehen einen schönen herbstlichen Baum mit Krone und etwas schwachen Wurzeln. Die leere Bank wirkt jedoch sehr verlassen. Wir müssen uns eine nochmal so große Bildfläche, völlig leer, rechts davon vorstellen. Zum Zeitpunkt der Entlassung ist der Patient neurologisch fast symptomfrei, psychisch ausgeglichen und mit Frau und Kind in gutem Einvernehmen. Beiden Partnern ist bewußt, daß Ihnen der emotionale Austausch schwerfällt und beide sehr einsam sind.
Die ambulante Behandlung gestaltete sich sehr wechselvoll. Konflikte mit den Eltern und Beziehungsstörungen zu seiner Frau oder zu mir gingen immer mit massiver Symptomverstärkung, zeitweise frischen Schüben mit Sehstörungen, Paraparese der Beine, wechselnden Sensibilitätsausfällen, Gangataxie und Benommenheit einher, trotz täglichen Visualisierens. Das ist immer wieder ein schwerer Schock für den Patienten. Einmal sagte er mir, daß er am liebsten den Faust´schen Pakt mit dem Teufel schließen würde, um eine Schub-Auslösung zu verhindern.
Erst nach erfolgreicher Beziehungsklärung und Konfliktbearbeitung wirkte das Visualisieren positiv. Mich hat jedesmal beeindruckt, wie rasch dann die neurologischen Ausfälle verschwanden. Meist brauchte der Patient 10-14 Tage intensiven täglichen ca. zweistündigen Visualisierens zur Symptombeseitigung. Die von mir vorgeschlagene Prednisolonbehandlung schob er dann immer wieder hinaus, und bisher war sie nur einmal notwendig bei einer schweren Dekompensation im Zusammenhang mit dem politisch-sozialem Wandel im Frühjahr 1990.
Auf Abbildung 6 sehen Sie die Darstellung der Visualisierung nach Dekompensation mit Retrobulbärneuritis (schmerzhafte Entzündung der Sehnerven). Das ist das Bild nach einer Dekompensation mit Retrobulbärneuritis links, ausgelöst durch einen Konflikt mit dem Vater und mit der Ehefrau. 14 Tage retrobulbäre (hinters Auge) Prednisoloninjektionen bewirkten nichts, erst die Annäherung beider Partner in einem gemeinsamen Gespräch mit einem Therapeutenpaar löste die innere Spannung und den Groll des Patienten. Nach 10 Tagen intensiven Visualisierens war die Sehkraft fast völlig wiederhergestellt. Wir sehen den Kopf, die Augen mit der Sehnervenkreuzung und den Körper des Patienten, wie er sich als in sich ruhende Einheit während des Visualisierens erlebt. Die Farben sind noch lebendiger und freudiger als im letzten Bild. Häufig erlebt er tiefe beglückende meditative Stadien. Ich zitiere:"Das Visualisieren gibt mir ein völlig neues Gefühl für meinen Körper. Ich fühle mich in meinem Körper wohl und Eins mit ihm. Das ist für mich ein wertvolles Gefühl und mit NICHTS zu vergleichen - eigentlich nicht beschreibbar." Ein anderes Mal sagte er: "Ich trete mit meinem Körper in Beziehung, streichle ihn von innen und unterstütze durch bildliche Kommunikation die Heilung meines Körpers."
Je besser es ihm geht, je heller und freudiger sieht er die Farben. Er hat das Gefühl, der Krankheit nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern selbst aktiv damit umgehen zu können. Zur gleichen Zeit, also nach der Wiederherstellung der Sehkraft, malt der Patient das Bild "Mein Leben jetzt": Wir sehen ihn jetzt mit seiner Familie fest verbunden. An der anderen Seite hat er sich mit seinem kranken Körper liebevoll an die Hand genommen, d.h., er kann jetzt sich selbst auch mit der Krankheit annehmen. Der Schmetterling soll seine Seele im Tod darstellen. Er sagt dazu, daß er die Angst vor dem Tod überwunden hat.
Neurologisch hatte der Patient zu diesem Zeitpunkt noch geringe Sensibilitätsstörungen im rechten Arm und eine leichte Gangataxie. Er war dabei, eine MS-Selbsthilfegruppe in Jena mit Hilfe der Rehabilitationskommission aufzubauen. Anfang 1989 verabschiedete sich der Patient aus der Behandlung mit der Bitte, sich im Notfall wieder an mich wenden zu können. Es ging ihm gut, seine Frau hatte sich inzwischen ebenfalls in psychotherapeutische Behandlung begeben.
Es kam die Wende. Hin und wieder sah ich den Patienten bei einer öffentlichen Protestveranstaltung. Im Februar 1990 meldete er sich wegen eines depressiven Verstimmungszustandes. Er berichtete, daß einige seiner engsten Freunde in die BRD gegangen seien, was er als schweren Verlust erlebt habe. Massiv verschlechtert sich jedoch seine Stimmung erst, nachdem er seinen alten Vater in ein Pflegeheim geben mußte. Von einem Tag zum anderen sei aus dem "mächtigen Tyrannen", wie er sagte, ein hilfloser Greis geworden. Die Parallele zu den politischen Ereignissen, dem Untergang der DDR, war evident. Plötzlich hatte sich alles, Vater und Staat, wogegen er innerlich und zum Teil auch äußerlich protestiert hatte - er war Anfang 1989 sogar aus der SED ausgetreten - in Nichts aufgelöst. Der Patient fühlte sich leer und ratlos, als ob er nun umstürzen müßte, nachdem der heftige Gegendruck plötzlich weggefallen war.
Ein neuer Schub trat auf, als der Patient erfuhr, daß sich Rentenberechnung, Beihilfesätze, Mieten und ähnliches ändern werden. Er konnte, wie viele ehemalige DDR-Bürger, die massiven Veränderungen des Alltags nicht verkraften, geriet in Panik und mußte mit einer akuten spastischen Paraparese der Beine in die neurologische Abteilung aufgenommen werden. Er erholte sich unter Prednisolon und psychotherapeutischer Mitbehandlung physisch und psychisch relativ rasch. Doch er mußte noch mehr Prüfungen bestehen. Im Herbst erfuhr er, daß seine Frau die Scheidung beabsichtigte. Das war der härteste Schlag für ihn. Es folgten lange Monate, in denen der Patient tief depressiv, aggressiv und suizidal war. Es war sehr schwer, diese Zeit mit ihm gemeinsam auszuhalten, auch seine aggressiven Ausbrüche zu ertragen. Er blieb am Leben und meinte später, daß er das ohne Psychotherapie nicht geschafft hätte.
Viel Phantasie und Geduld sind erforderlich
Ab Sommer 1991 ging es ihm besser, und er lernte eine neue Partnerin kennen. Er sagte später darüber: "Ich wollte mein Leben 1991 so ähnlich fortführen wie vor meiner Scheidung, meine Bekannte quasi als Ersatz für meine Ehefrau. Heute weiß ich, daß es so nicht geht. Aber wie?"
Im Frühjahr 1992 trat wieder ein schwerer Schub auf, der ihm den Rollstuhl brachte. Er war zudem enttäuscht, zurückgezogen, depressiv-aggressiv, ohne Lebensmut. Er fühlte sich von allen enttäuscht und verlassen, auch von mir und der Psychotherapie.
Inzwischen ist ein zweites Jahr vergangen und der Patientin ist wieder einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Zur Zeit ist er trotz Rollstuhls aktiv und kontaktfreudig. Die Therapieunterbrechung durch meinen Weggang für einige Monate hat er bisher gut verkraftet. Ich meine, daß die Wende durch die Bearbeitung der symbiotischen Beziehung zu mir zustande kam. Er wehrte sich zunächst heftig gegen meine diesbezügliche Deutung und drohte mit Behandlungsabbruch und Suizid. Allmählich wurde er freier und konnte aktiv und erfinderisch das neue beschwerliche Leben als Rollstuhlfahrer gestalten und wieder Kontakte pflegen. Er lernte, Hilfe und auch das Alleinleben anzunehmen. Er visualisiert unverändert regelmäßig, ein neues Bild habe ich noch nicht von ihm bekommen. In depressiven, verzweifelten Phasen sind die Vorstellungsbilder düsterer und kraftloser als in ausgeglichenen Lebensabschnitten.
Zusammenfassend möchte ich sagen, daß analytische Psychotherapie und Visualisierung bei MS einen hohen Einsatz und viel Phantasie und Geduld von Patient und Therapeut erfordert. Nach meiner Erfahrung sind nur wenige Patienten zu soviel Selbsthilfeengagement, wie es das Visualisieren erfordert, zu gewinnen. Alleiniges Visualisieren ohne Bearbeitung der aktuellen Lebenskonflikte ist nach meiner Erfahrung auch nicht wirkungsvoll. Ich verzichte nie auf die Forderung, die Visualisierungsbilder aufmalen zu lassen, da sich so unbewußte Gegenkräfte gegen das Gesundwerden leichter erkennen lassen.
Auch wenn Kritiker die biologische Wirksamkeit der Visualisierungstechnik anzweifeln, fördert sie doch den Gesundungswillen und ermöglicht dem Patienten eine aktive Einstellung seiner Krankheit gegenüber.
Insgesamt habe ich in den letzten drei Jahren weitere Erfahrungen mit drei Krebspatienten, zwei Hepatitiskranken und einer Schwangeren mit einer schweren Blutgruppenunverträglichkeit gesammelt. Ich halte das genannte Behandlungskonzept für sehr wirkungsvoll, motivierten Patienten mit chronischen Organerkrankungen, wie es auch die MS ist, sowohl bei der Krankheitsbewältigung als auch bei der eigenen Beeinflussung des Krankheitsverlaufes Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
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Forum Psychosomatik 1. Halbjahr 1996
2. Forschungspreis zur Psychosomatik der MS verliehen
..... Als wesentliche Ergebnisse arbeitete Sonnack zum einen heraus, daß zwei Drittel der MS-Betroffenen zu einer sozio- und psychogenen Erklärung als Krankheitsursache neigen und sich dementsprechend psychotherapeutische Unterstützung wünschen. Im Gegensatz dazu stelle die Betreuung MS-Betroffener immer noch den medizinischen Aspekt in den Mittelpunkt, kritisierte die Preisträgerin. Auch bei den Therapieverfahren läge der Schwerpunkt weiterhin auf der Erforschung von Medikamenten und nicht von Psychotherapie.
Zum anderen fand sie heraus, daß das Geschlecht eine entscheidende Rolle hinsichtlich des Krankheitsverlaufes und -erlebens spiele: Frauen erkranken laut Sonnack häufiger und früher als Männer und sie haben die besseren Krankheitsverläufe. Außerdem finde ein MS-betroffener Mann, der nicht mehr erwerbstätig sein könne, keine gesellschaftlich legitimierte Alternative zu diesem Verlust. Frauen hingegen schafften es leichter, die MS in ihren Alltag zu integrieren.
Zur Bedeutung der MS im Leben der Betroffenen hielt Sonnack fest, daß die MS für viele Betroffene eine Art "Lösungsversuch" darstelle. Bei 61 % der Frauen diene die MS als Legitimation, nicht mehr die traditionelle Frauenrolle erfüllen zu müssen. Für 38 % der Männer sei die MS ein Schutz vor beruflicher Überforderung. Bei 77 % aller Betroffenen kam es durch die Erkrankung sogar zu einem Identitätsgewinn und zwar bei 19 % der Frauen, jedoch nur bei 57 % der Männer.
Eine Studie unter dem Titel "Zu psychosomatischen Aspekten der MS" hatte der zweite Preisträger, der Neurologe Dr. Eckhard Dannegger, an der Reha-Klinik Bad Orb durchgeführt. Er widmete sich den belastenden Lebenssituationen kurz vor der Erstmanifestation sowie den biographischen Entwicklungsbedingungen und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen als Risikofaktoren für eine spätere MS-Erkrankung. Dannegger untersuchte insgesamt 69 MS-Betroffene und fand in 80 % der "Fälle" schwere Belastungen vor der Erstmanifestation. An erster Stelle standen "erhöhte Leistungsanforderungen", gefolgt von "Rivalitäts- und Autoritätskonflikten", "Situationen verdichteter menschlicher Beziehungen", "Autonomie-Abhängigkeits-Konflikten" und "Trennungs- und Verlustereignissen". Damit bestätigte er Studien anderer Autoren.
Hinsichtlich der biographischen Risikofaktoren fand Dannegger gehäuft schwierige Familienkonstellationen. Weiter stellte er bei einer Fragebogenanalyse eine hohe Neigung der Betroffenen fest, die sozial erwünschten Antworten zu geben.
.... In seinem Vortrag "Psychosomatische Erkrankungen nach der "Wende"", ging der leitende Oberarzt der Burg-Klinik Stadtlengsfeld, Dr. Michael Schütz, auf den "erzwungenen Perspektivenwechsel" der ehemaligen DDR-Bürger/innen ein. Hier sei es zu Erkrankungen gekommen, da eine Adaption der eigenen Biographie an diesen kollektiven Perspektivenwechsel nicht gelungen sei. Mit der Entwicklung von "Kohärenzgefühl", d.h. mit der Entwicklung von Verständnis für das scheinbar Fremde könne aber ein neuer Sinn erschlossen werden. Genau dies, so Schütz, sei auch das Anliegen der Stiftung Lebensnerv: Sie habe die Entwicklung neuer Perspektiven in bezug auf eine gemeinhin "organisch" verstandene Krankheit zu ihrem Anliegen gewählt. Damit verfolge sie das Ziel, scheinbar sinnlose Krankheitserfahrung verstehbar zu machen. ...
Zur Bedeutung einer chronischen Krankheit für die Betroffenen, Auszüge aus dem Vortrag von Bettina Sonnack
.... Mein Ansatz, mich intensiv dem Thema "Psychosomatik bei MS" zu widmen, war der, nach psychosozialen Faktoren zu suchen, die diese Krankheit beim Ausbruch und in ihrem Verlauf beeinflussen. Davon ausgehend wollte ich auf die Besonderheiten hinweisen, die sich für die Beratung und Betreuung von MS-Betroffenen ergeben. Ich habe diese Arbeit in erster Linie für Sozialarbeiterinnen, aber auch für MS-Betroffene und ihre Angehörigen geschrieben.
Hier möchte ich kurz einfügen, daß ich heute generell in der weiblichen Form spreche, aber bitte die Männer mit eingeschlossen wissen möchte. Ich habe mich dazu entschieden, da sowohl bei den MS-Betroffenen wie auch im Berufsfeld der Sozialarbeit der Anteil der Frauen größer ist.
Ich interessiere mich grundsätzlich für sozialmedizinische Fragen, ausschlaggebend für meine Entscheidung zu dieser Arbeit aber war, daß ich selber seit einigen Jahren MS-Betroffene bin. Persönliche Erfahrungen sind aber nicht Gegenstand der Arbeit. Mir geht es vielmehr darum, deutlich zu machen, daß Krankheit auch als Symptom zu verstehen ist, indem sie auf krankmachende Lebensumstände hinweisen kann. Krankheit ist für mich nicht nur eine Abweichung von medizinischen Normen, sondern ist ein bedeutungsvolles Zeichen dafür, daß ein Mensch an dem Leben leidet, an dem er teilhat. Krankheit kann also als Schlüssel verstanden werden, Lebensumstände deutlich zu machen, die die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen überstrapazieren. Sie kann darüber hinaus auch von möglichen Belastungsfaktoren zu "Gesundheitsfaktoren" verweisen. Damit verbunden ist die Frage nach dem: "Wie will ich leben?" und somit der Bereich der Wünsche nach einem zufriedenstellendem Leben jenseits bloßer Krankheitsabwesenheit.
Ich will nun zum Inhalt meiner Arbeit kommen: Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert; der erste Teil gibt eine Übersicht über die medizinischen Aspekte bei MS und über die Ätiologiemodelle. Darauf werde ich hier nicht näher eingehen. Im zweiten Teil habe ich eine empirische Arbeit von Henry Beland aus dem Jahre 1982 in den wichtigsten Ergebnissen dargestellt und kommentiert. Das war der Hauptteil, auf den ich gleich mehr Zeit verwenden möchte. Im dritten Teil kamen 5 MS-Betroffene im Rahmen von Interviews zu Wort, die ich wörtlich widergab, um ein besseres Verstehen für die LeserInnen meiner Arbeit zu ermöglichen.
Noch einige grundlegende Bemerkungen zur Untersuchung von Henry Beland: Die Untersuchung lehnte sich in die Auswahl des Samples an eine prospektiv angelegte, epidemiologische Studie der Neurologischen Klinik der Universität Göttingen an. Hierbei werden seit 1964 kontinuierlich alle Neuerkrankungen, Krankheitsverläufe, Todesfälle, Umzüge usw. erfaßt und beobachtet. Dies ist einmalig in der BRD. So ergibt sich eine nahezu lückenlose Dokumentation aller MS-Betroffenen in Südniedersachsen.
Die Studie von Beland wurde im Sommer 1978 durchgeführt. 92 MS-Betroffene wurden zuhause ausführlich zu ihrer Lebens-, Familien- und Krankengeschichte befragt. In ca. 50 % der Fälle wurde ein Interview mit der Bezugsperson (meist Ehepartner) durchgeführt. Folgende Fragen standen im Mittelpunkt der Untersuchung von Beland: Welchen Stellenwert die Erkrankung an MS subjektiv im Leben der Betroffenen einnimmt, welche Krankheitstheorien die Betroffenen selber haben, wie sie mit der Krankheit umgehen, und welche Folgen diese für sie hat, und ob es eine wechselseitige Bedingheit von Krankheitsverhalten und Schwere, Dauer und Verlauf der MS gibt.
In der Medizin liegt der Schwerpunkt der Forschung bei MS in der Suche nach den somatogenen Ursachen. Aber obwohl die Diagnoseverfahren in den letzten Jahrzehnten ständig verbessert wurden, ist man bei den Erkenntnissen zu den Ursachen der MS nicht sehr viel weitergekommen. Auch bei den Therapieverfahren liegt der Schwerpunkt auf der Erforschung von Medikamenten, nicht von Psychotherapie für MS-Betroffene.
Dies steht nun in krassem Widerspruch zu den subjektiven Einschätzungen der Betroffenen; der größte Teil von ihnen neigt zu einer sozio- und psychogenen Erklärung als Krankheitsursache, entsprechend wünschen sich viele MS-Betroffene psychotherapeutische Unterstützung. In der Betreuung von MS-Betroffenen stehen aber meist die medizinischen Aspekte im Vordergrund. Selbst im Beratungsbereich durch SozialarbeiterInnen liegt der Schwerpunkt meist ausschließlich bei der Lösung von finanziellen und rechtlichen Problemen.
Hier handelt es sich also um ein Mißverhältnis zu den Wünschen und Bedürfnissen MS-Betroffener. Es ist unverständlich, wieso die psychosozialen Aspekte so wenig Berücksichtigung finden neben den anderen Problemlagen, die sich durch die Erkrankung an MS ergeben. Dabei scheinen soziogene Faktoren eine große Rolle zu spielen und haben dadurch einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf den Verlauf der MS.
Für mich ist der wichtigere, neue Aspekt, der mir in dieser Deutlichkeit vor dem Schreiben meiner Diplom-Arbeit nicht bewußt war, welch entscheidende Rolle das Geschlecht hinsichtlich des Krankheitserlebens und -verlaufes spielt. Um nur einige Ergebnisse aufzuzählen:
Frauen erkranken zum einen häufiger als MÄnner, meist im Lebenszyklus auch früher, und sie haben die besseren Krankheitsverläufe. Nach der Selbsteinschätzung der Betroffenen zählen sich fast die Hälfte der Frauen zu den selbstbewußten Personen, aber nur 22 % der Männer. Frauen "kämpfen" auch eher aktiv gegen die Krankheit, sie integrieren die MS leichter in den Alltag und fühlen sich durch sie nicht so belastet.
Frauen werden aber auch schneller als abhängig und behindert angesehen, wenn sie nämlich den Haushalt nicht mehr alleine führen können; für Männer gilt die gleiche Beurteilung erst, wenn sie ihre körperlichen Verrichtungen nicht mehr alleine bewältigen können.
Nun ist es interessant, wie es zu diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden kommt, und oft wird ausgeblendet, daß traditionelle Rollenerwartungen den Lebensalltag von Betroffenen unterschiedlich prägen. So findet z. B. ein MS-betroffener Mann der nicht mehr erwerbstätig sein kann, keine gesellschaftlich legitime Alternative zu dem Verlust wie eine Frau, von der in der gleichen Situation erwartet wird, daß sie den Haushalt führt.
Durchaus fällt es nicht allen Frauen leicht, eine Berufstätigkeit aufzugeben und die Rolle der Hausfrau und Mutter zu übernehmen. Im Gegenteil: In vielen Fällen weisen die Ergebnisse von Beland darauf hin, daß ein Zusammenhang zwischen der MS und der gesellschaftlich zugeschriebenen traditionellen Frauenrolle besteht, die nicht oder nicht mehr gewollt wird. Dennoch besteht für die Frau eher die Möglichkeit, eine andere oder modifizierte soziale Identität anzunehmen, die keine Stigmatisierung aufgrund der Erkrankung beinhaltet. Die unterschiedlichen Verlaufstendenzen sprechen dafür, daß die Abwehrreaktion gegenüber einer nicht gewollten bzw. als permanente Überforderung empfundene Lebenslage bei den Frauen tendenziell eher gelingt als bei Männern.
Krankheitsausbruch
So gut wie alle MS-Betroffenen geben bereits dem Ereignis des Krankheitsausbruches einen Sinn, der sich an den Erfahrungen orientiert, die für die Lebensgeschichte der Betroffenen prägenden Charakter haben. In 90 % der untersuchten Fälle zeigte sich, daß der Krankheitsausbruch in Zusammenhang mit wichtigen Lebensereignissen oder mit schweren Lebenskrisen stand.
Das hierbei aufgetretene Krankheitsgeschehen trug in der Regel den Charakter einer "Episode". Dabei stellt sich die Frage, ob dieser episodenhafte Charakter mit demjenigen der Situation, in welche das Geschehen fällt, unmittelbar zusammenhängt, d.h. mit ihr auch wieder verschwindet und wiederkehrt beim Zusammentreffen vergleichbarer Auslösemomente.
2/3 der Frauen und 1/3 der Männer sahen ihre Situation bei Krankheitsausbruch als ausweglos und hoffnungslos an, so daß die Folgerung möglich wird: Die MS bietet die Möglichkeit, eine Identitäts- oder Existenzkrise zu überwinden und zu einer Identität zu kommen, die der Persönlichkeits- und Bedürfnisstruktur der Betroffenen in größerem Maße als die vorherige Identität entspricht.
Wenn man nun alle Meinungsäußerungen zum Thema Krankheitstheorie zusammenfaßt, die historischen und soziogeografischen Umstände sowie die seelischen und körperlichen Belastungen betreffend, so neigen mehr als 2/3 aller Befragten zu einer sozio- und psychogenen Erklärung als Krankheitsursache. Die Mehrheit der befragten MS-Betroffenen deutet die MS als ein Phänomen, welches unmittelbar mit historischen und sozio-ökonomischen Verhältnissen verknüpft ist.
Die Bedeutung der MS im Leben der Betroffenen
"Bedeutung" ist ein sehr umfassender Begriff. Er faßt die unterschiedlichsten Aspekte zusammen, zu denen u.a. folgende zählen: Welche Belastungen stellt die MS für die Betroffenen dar? Welche Rolle spielen krankheitsbezogene Maßnahmen im Alltag der Betroffenen? Welchen Platz nimmt die MS als Thema, als Instrument der Interessendurchsetzung und Legitimation der Existenz? Und welche Auswirkungen bringt die MS für die Identität der Betroffenen mit sich? Auf all die Fragen will ich versuchen, eine Antwort zu geben bzw. eine Arbeitshypothese dazu aufzustellen.
Zuerst einige Bemerkungen zur Belastung der Betroffenen im Alltag und zu den krankheitsbezogenen Maßnahmen:
Frauen schaffen es offenbar eher, die MS in ihren Alltag zu integrieren und fühlen sich weniger belastet als Männer. Wichtig ist auch, daß mit zunehmender Krankheitsdauer die Belastung weniger empfunden wird trotz stärkerer Beeinträchtigungen. D.h. je schneller und besser die MS in den Alltag integriert wird, desto geringer ist die Belastung für die Betroffenen.
Wie zentral wiederum die krankheitsbezogenen Maßnahmen in ihrer Bedeutung für den Alltag der Betroffenen sind, hängt ausschließlich von der subjektiven Sinnverleihung und der Funktion der MS im sozialen Kontext der Betroffenen ab. Bei den meisten Betroffenen sind die krankheitsbezogenen Maßnahmen nicht das wichtigste strukturgebende Element im Alltag, die MS wird eher im Rahmen der Lebensthematik zur Interessendurchsetzung eingesetzt. D.h. in den meisten Fällen gelingt es MS-Betroffenen, ihre Erkrankung und die daraus resultierenden Maßnahmen so weit zu integrieren, daß ein Gleichgewicht in ihrem Alltag und ihren Beziehungen erreicht wird.
Bei der Frage nach dem instrumentellen Charakter der MS fällt auf, daß diese im Alltag zum einen als Machtmittel eingesetzt wird oder aber eine sinngebende Funktion zur Erklärung und Legitimation der Existenz erhält. Im ersten Fall dient die MS primär als Mittel zur Abgrenzung gegen Leistungsanforderungen und emotionale Verpflichtungen; dies gilt für 2/3 der Befragten, davon 80 % Frauen. Im zweiten Fall ist die MS Manifestation der Überzeugung, nach welcher ein Scheitern und Rückzug aus sozialen Positionen oder auch ein schweres Lebensschicksal erklärt wird; dies gilt für ein Drittel der Befragten, davon 80 % Männer.
Bei 52 % der Befragten stellte die MS ein beherrschendes und immer wiederkehrendes Thema dar im Sinne eines Instrumentes, mit dem ein bestimmter Zweck auch gegen den Willen anderer durchzusetzen ist. Dies betrifft knapp 2/3 Frauen, aber nur gut ein Drittel der Männer. Hier muß nach drei Schwerpunkten unterschieden werden:
a) Die MS als Kompensation einer sozialen Deklassierung
In dieser Gruppe sind 8 Frauen und alle 14 Männer, bei denen die MS ein beherrschendes Thema darstellt. Ihnen liefert die MS die Legitimation, ein Scheitern in Beruf und Ehe oder einen Rückzug aus sozialen Positionen zu rechtfertigen. Die MS hebt die vorher erfolglos bekämpfte Deprivation nach sozialer Deklassierung auf und schafft ihnen eine neue Perspektive, nämlich an einer höheren sozialen Identität festzuhalten. Doch da eine Kluft zwischen vorgestellter und tatsächlich vorhandener sozialer Identität besteht, ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt und läuft auf einen Prozeß der Selbstzerstörung hinaus. Entsprechend ungünstig sind die Krankheitsverläufe.
Bei Frauen ist diese Haltung nicht im selben Ausmaß selbstzerstörerisch, da ihnen die MS eher als ein Mittel der Legitimation dient, sich freiwillig auf ein begrenztes und überschaubares soziales Feld zu beschränken und sich aus sozialen Positionen zurückzuziehen. So nimmt die MS bei ihnen eher einen positiveren Verlauf. Gelingt also eine Adaption an die Lebensumstände, ist der Krankheitsverlauf eher günstig. Gelingt ein Anknüpfen an eine verlorengegangene soziale Identität nicht, so ist der Verlauf der MS mit großer Wahrscheinlichkeit ungünstig.
b) Die MS als Waffe im Konflikt mit dem Partner und zur Abgrenzung und Leistungsverweigerung in der Familie
Obwohl auch Männer die MS als Waffe in Konflikten in der Beziehung einsetzen, sind bei ihnen eher Beruf und ökonomische Potenz zentrale Themen; so sind dieser Gruppe 25 Frauen zugeordnet. Bei ihnen wird deutlich, wie sehr die Adaption an die Lebensumstände vom Verhalten der nächsten Umgebung der Betroffenen abhängt.
Einige der hier zugeordneten Frauen hatten vorher unter der Rücksichtslosigkeit ihrer Ehemänner seelisch sehr gelitten. Für alle gilt, daß durch die Thematisierung der MS zweierlei erreicht wurde:
- die Bindung des Mannes an die Frau
- die Stärkung der eigenen Position in Abgrenzung zu den Forderungen des Mannes
Dies bezieht sich auf Forderungen nach Dienstleistungen in der Familie oder auf emotionale und sexuelle Forderungen des Mannes. Auch wird die MS als Schutz gegen eine unerwünschte Erwerbstätigkeit bei Knappheit der materiellen Resourcen eingesetzt. So ist die MS ein Schutz für die Frau, nicht als Dienstmagd oder Sexualobjekt mißbraucht zu werden.
Bei erfolgreicher Abgrenzung gegenüber dem Partner hat dies unmittelbare Auswirkung auf den Krankheitsverlauf; die meisten Frauen dieser Gruppe haben kaum oder nur geringfügige Symptome.
c) Die MS als Mittel zur Durchsetzung einer eigenständigen Berufskarriere
Dieser Gruppe sind 6 jüngere Frauen zugeordnet, die eine mittlere oder höhere berufliche Qualifikation haben oder anstreben. Alle hatten wegen Heirat oder Geburt eines Kindes die Berufstätigkeit aufgegeben und zeitgleich schwere MS-Schübe bekommen. Dadurch haben sie sich für die Berufskarriere entschieden, und diese teils gegen den Widerstand des Mannes durchgesetzt, weshalb es in drei Fällen zur Trennung kam. In allen 6 Fällen ist nun auffällig, daß es nach der Durchsetzung der eigenen Karriere und einer ökonomisch unabhängigen Lebensperspektive nicht mehr zu gravierenden Krankheitseinbrüchen kam; alle 6 Frauen sind weitgehend symptomfrei.
Interessant ist hier: Wird die MS als Mittel eingesetzt, nachdem die Erkrankung eingetreten ist, oder werden diese Betroffenen krank an MS, weil sie ihre Bedürfnisse und Interessen nicht anders durchsetzen können? Ist die MS für die Männer dieser Gruppe eine Entlastung von Verantwortung für ihr "Scheitern", ihren Mangel, als Mann in der Gesellschaft versagt zu haben? Und für die Frauen eine Möglichkeit der Leistungsverweigerung als "Dienstmagd auf lebenslänglich" bzw. eine Chance, ihre eigene Karriere im Beruf durchzusetzen? Werden also gerade eher die Männer bzw. die Frauen an MS krank, die den geltenden Rollenerwartungen nicht gerecht werden können oder wollen?
Nach den Untersuchungsergebnissen stellt die MS für 61 % der Frauen eine Art "Lösungsversuch" dar, ihrem Leben eine Wende zu geben, zu einer angemesseneren Situation hin. Für 38 % der Männer ist die MS Schutz vor der Übernahme der Verantwortung für den erreichten sozialen Status, der ihnen und/oder anderen zu gering erscheint.
Zur Bedeutung der MS für die Identität
In 77 % aller Fälle kommt es durch die Erkrankung an MS zu einem Identitätsgewinn, in 15 % der Fälle zu einem Festhalten an einer "unbeschädigten" Identität, und nur in 8 % der Fälle zu einem Identitätsverlust, der zur Selbstaufgabe führt.
Geschlechtsspezifisch unterschieden kommt es für 91 % der Frauen zu einem Identitätsgewinn, doch nur für 57 % der Männer. Umgekehrt führt die Erkrankung nur bei 9 % der Frauen zu einer Identitätsbedrohung oder zu einem Verlust der Identität, während dies für 43 % aller Männer gilt.
Eine Belastung durch die Erkrankung ergibt sich für 43 % der Betroffenen in der Alltagsroutine - wiederum mit geschlechtsspezifischen Unterschieden -, doch nur für 32 % aller Befragten ist dies von zentraler Bedeutung.
Bemerkenswert sind diese Ergebnisse, weil es somit offenbar dem Großteil der Befragten gelingt - und hier vor allen Dingen den Frauen -, die Erkrankung an MS zu einem positiven Faktor in ihrem Leben zu verarbeiten.
Wenn man abschließend die Ergebnisse auf eine Wechselwirkung zwischen Verlauf der MS und der Art ihrer Bewältigung untersucht, drängt sich bei allen Vorbehalten, die bei einer retrospektiven Untersuchung bestehen, die Hypothese auf, daß nicht die Art der Bewältigung für den Krankheitsverlauf entscheidend ist, sondern welcher Art der der Erkrankung innewohnende Sinn ist, und in welchem Maße es den Betroffenen gelingt, diese Sinnhaftigkeit gegenüber ihrer Umgebung durchzusetzen. Dabei kann der intendierte Sinn ambivalent sein und ist keineswegs immer auf Gesundung und Rückkehr in das Leben gerichtet. Das bedeutet, daß entscheidend für einen weiteren günstigen Krankheitsverlauf das Gelingen einer Adaption an das Leben sein könnte.
Forum Psychosomatik 2. Halbjahr 1996
Psychosomatik in der Neurologie von Karl F. Masuhr
Die Psychosomatik in der Neurologie erforscht die Entstehung seelischer und körperlicher Krankheitsmerkmale im biographischen Kontext. Eine wesentliche Voraussetzung des Dialoges mit dem Kranken ist die Kenntnis der Phänomenologie und Psychodynamik gestörter Wahrnehmungs- und Bewegungsfunktionen. Das affektive Erleben des Kranken ist verändert, die Stimmung ängstlich, depressiv, dysphorisch, euphorisch oder indifferent. Es finden sich vegetative Begleitsymptome der Affekte. Der Patient ist nicht als Objekt der neurologischen Untersuchung, sondern immer als Subjekt, d.h. als Ich in seiner Umwelt zu verstehen. Unter psychosomatischem Aspekt lassen sich exemplarisch fünf Konstellationen unterscheiden:
1. Schwindel oder Schmerzen sind subjektive Phänomene, die häufig mit Affekten assoziiert sind. Ein Schwankschwindel oder ein Spannungskopfschmerz manifestiert sich zum Beispiel als unmittelbarer Ausdruck von Angst bzw. anstelle einer latenten Angst. Schwindel, Schmerzen und Angst können sich gegenseitig vertreten. Bei phobischem Schwindel wird die Umwelt als schwankend erlebt, bei angstbedingten, wandernden Schmerzen wirkt der Kranke unsicher und psychomotorisch unruhig. Angst kann in die Umwelt projiziert werden. Die Ich-Umwelt-Relation ist subjektiv verzerrt.
2. Tremor und Ataxie (Dysmetrie, Stand- und Gangunsicherheit) sind als objektive Symptome mit subjektiven Empfindungen verbunden. Jede Koordinationsstörung wird situativ verstärkt. Der Körper drückt auf diese Weise unwillkürlich aus, was der Kranke affektiv erlebt. So können zum Beispiel Zitteranfälle ebenso wie ein schwankender Gang und Stand in einer Krisensituation sichtbarer Ausdruck einer uneingestandenen Angst oder Wut sein. Diese psychosomatischen Symptome verselbständigen sich, wenn der Affekt abgewehrt wird. Die Ich-Umwelt-Relation ist unkoordiniert.
3. Wenn Schwindel, Schmerzen und Koordinationsstörungen situativ ausgestaltet werden, beklagt der Patient weitere, vor allem vegetative Beschwerden nicht ohne Affekt und eine ängstliche Unruhe oder depressive Stimmung als körperliche Schwäche, die mit einem "Lähmungsgefühl assoziiert ist. Die Erschöpfung beruht auf der Somatisierung eines psychischen Konflikts (Somatisierungsstörung). Die Ich-Umwelt-Relation gerät aus dem Gleichgewicht.
4. Bei psychogenen Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen ist der Patient häufig affektiv unbeteiligt (indifferent). Es besteht eine "Gefühlslähmung" bis zur Anästesie. Erregende Triebimpulse werden verdrängt, neutralisiert und in körperliche Symptome umgewandelt (konvertiert). Konfliktbedingte, funktionelle Wahrnehmungsstörungen wie eine psychogene Amnesie, Blindheit oder Aphonie treten auf, wenn sich die Innen-Außen-Beziehung des Kranken umkehrt. Man spricht von Konversionsstörungen bzw. dissoziativen Störungen. Der eigene Körper kann zum Fremdkörper werden, die Außenwelt eigenartig fremd erscheinen. Die Selbstwahrnehmung spaltet sich von der Willkürbewegung ab. Die Ich-Umwelt-Realtion ist dissoziiert.
5. Alle Phänomene (1-4) sind unter dem Aspekt der situativen Auslösung zu betrachten, da sich auch neurologische Krankheiten, wie z. B. eine MS, mit Schwindel, Schmerzen, Koordinations-, Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen in einer lebensgeschichtlich kritischen Situation manifestieren bzw. im weiteren Verlauf einem situativ bedingten Symptomwandel unterliegen können. Das affektive Erleben des Patienten ist verändert, und die Symptome werden situativ verstärkt.
In jedem Fall (1-5) sind Funktionsstörungen zu beobachten, die das Muster neurologischer Syndrome aufweisen bzw. annehmen. Entweder greift der Affekt unmittelbar an einem körperlichen Symptom an oder das körperliche Symptom greift einen latenten Affekt auf. Man spricht allgemein von somatoformen Störungen, um zu verdeutlichen, daß die organischen Befunde nicht ausreichen, um die körperlichen Symptome zu erklären. Wesentlich ist der zeitliche Zusammenhang der Symptome mit einem ungelösten, verdrängten und aktualisierten psychischem Konflikt. In der Anamese, die sich am subjektiven biographischen Kalender des Patienten orientiert, finden sich Erinnerungsspuren, die die Erstmanifestation körperlicher und psychischer Symptome aufzeigen. Unter psychosomatischem Aspekt läßt sich häufig auch der flukturierende Verlauf psychogener und neurologischer Krankheiten, das Krank- und Gesundwerden, besser verstehen. Die Entwicklung beruht immer auf einer lebensgeschichtlichen Konfliktsituation, in der die psychischen und körperlichen Krankheitsmerkmale entstehen oder sich wandeln. Diese werden daher psychosomatisch genannt.
Epidemiologie
Die Prävalenz psychogener und psychosomatischer Störungen liegt bei 25-35 % der Bevölkerung. Aus neurologischer Sicht sind z. B. 10 % aller Schwindelsensationen und Anfallsereignisse psychogen. Psychosomatische Störungen der individuellen Wahrnehmung finden sich bei 5 % aller Patienten, die einen Arzt aufsuchen. Die früher häufigen Konversionsstörungen, wie epidemisches "Kriegszittern" und Tremor-Epidemien in Friedenszeiten, werden heute selten beobachtet. Insgesamt finden sich keine signifikanten Geschlechtsunterschiede.
Symptomatologie
Akuter Schwindel und chronische Schmerzen gehören zu den häufigsten psychosomatischen Beschwerden in der Neurologie. Zunächst fallen vegetative Begleitsymptome auf: Gesichtsröte oder -blässe; Dyspnoe, Hyperhidrosis und Tachykardie. Zusätzlich werden Übelkeit, Erbrechen, Diarrhöen, Obstipation usw. berichtet. Die naturgemäß eher unmerklich ablaufenden autonomen Funktionen (Atmung, Pulsschlag usw.) rücken in den Vordergrund des Beschwerdebildes und der Krankheitsvorstellung. Da aber jeder Affekt mit vegetativen Symptomen einhergeht, können diese Symptome auf eine Angststörung verweisen, die der Schwindel- oder Schmerzsymptomatik zugrunde liegt.
Schwindel ist mehrdeutig. Jede Benommenheit bis zum "Taumeln" und vielfältige Phänomene, die im Kopf oder im gesamten Körper wahrgenommen werden, gelten als Schwindel. Nur wenige Menschen sind vollkommen schwindelfrei, für einige ist "alles" Schwindel. Schwindel bedeutet die Wahrnehmung einer Scheinbewegung von Ich oder Umwelt. Schwindelgefühle gehen mit veränderter Selbstwahrnehmung einher und können anhalten, "bis die Sinne schwinden". Daß Kinder schwindelerregende Körperdrehungen nicht lästig sondern lustig finden, ist ein Hinweis darauf, daß die Rotation eine affektiv erregende Scheinbewegung der Umwelt hervorrufen und deren Wahrnehmung wiederum die Lust zu fortgesetzter Drehung steigern kann. Für die Symptombildung ist der Umschlageffekt wesentlich, d.h. der kritische Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, ob der Schwindel schon in der Erinnerung an ein schwindelerregendes Erlebnis mit Lust oder Unlust assoziiert wird und sich zu einem psychosomatischen Symptom entwickelt.
Schmerzen als Ausdruck von Angst durchwandern Kopf und Rumpf und können dazu führen, daß der Schmerzkranke von Arzt zu Arzt wandert. Chronifizierte Nacken-Kopf- und Rückenschmerzen ("tension-type headache", "low back pain") werden besitzanzeigend als "mein" Schmerz, ebenso wie ein langjährig eingenommenes Analgetikum als "mein" Schmerzmittel bezeichnet wird, d.h. mangels persönlicher Bindungen und Gesprächspartner gleichsam als Angehörige und ständige Begleiter personifiziert. Dann entwickelt sich auch eine Abhängigkeit von "meinen" Ärzten und "meinen" Patienten in einem Zweckbündnis.
Tremor ist selten psychogen, aber häufig mit affektivem Erleben eng verbunden, wie dies schon die sprachliche Wendung "mit Zittern und Zagen" ausdrückt. Kinder neigen dazu, ein Kältezittern zu einem "Schüttelfrost" auszugestalten; kranke Kinder und Erwachsene greifen das Symptom unwillkürlich immer dann auf, wenn sie einen uneingestandenen Affekt wie Angst, Scham, Trauer oder Wut nicht zeigen können.
Ataxie wird immer situativ (affektiv) verstärkt. Meist treten psychogene (funktionelle) Koordinationsstörungen in der Neurologie paroxysmal ("anfalls-", "blitz-" oder "schlagartig") auf. Zielbewegungen, Stand und Gang werden plötzlich unsicher, ataktisch. Unter unwillkürlicher Hyperventilation können Zitter-Anfälle, Zuckungen oder Krämpfe der Extremitäten einsetzen ("Bewegungssturm"), die in einem Opisthotonus kulminieren. Unter Hyperventilation fällt der Kopf plötzlich zur Seite und der Patient regt sich nicht mehr ("Totstellreflex").
Unter psychosomatischem Aspekt lassen sich die Phänomene sprachlich und körpersprachlich differenzieren. Sie drücken sich in bestimmten Redewendungen in Mimik, Gestik und Haltung, in Stimmungen oder in Stummheit aus.
Ätiopathogenese
Bleibt der Dialog von Patient und Arzt bei den vegetativen Symptomen stehen, werden sich beide auf die Verlegenheitsdiagnosen "psychovegetativer Erschöpfungszustand" oder "chronic fatigue syndrome" beschränken müssen. In diesem Fall stimmt die Krankheitsvorstellung des Patienten mit der vereinfachten "Streß"-Theorie überein.
Im lebensgeschichtlichen Kontext ("Warum gerade jetzt?!") erscheinen die Phänomene vor dem Hintergrund des biographischen Kalenders. Vage erinnerte bzw. "vergessene" Geburts- oder Hochzeitstage sind in einer akuten, affektgeladenen Konfliktsituation wichtige lebensgeschichtliche Daten, die die Beziehungsstruktur des Patienten erhellen, aber von ihm selbst, wenn überhaupt, nur im Nebensatz erwähnt werden.
Psychodynamisch lassen sich nun die Symptome als Folge einer situativen Ausgestaltung der Beschwerden im Sinne einer Somatisierungsstörung erklären. Z. B. werden Restbeschwerden nach Unfallereignissen, vor allem angesichts einer beruflichen oder familiären Krise psychosomatisch ausgestaltet und dann nicht ohne Affekt ("Erschütterung") geschildert.
Demgegenüber werden Konversionsstörungen, die den dringenden Verdacht erwecken könnten, meist mit einer "belle indifference" dargestellt, als betreffe eine psychogene Blindheit oder Gangstörung nur die Außenwelt. Vordergründig wirken die Patienten "unerschütterlich". Der psychodynamische Vorgang der Konversion (lat. convertere = umdrehen, umwenden, umkehren) besagt, daß verdrängte Konflikte und Affekte symbolisch verschlüsselt in körperliche Störungen umgewandelt werden.
Dies können psychische Konflikte zwischen widersprüchlichen Affekten bzw. Triebimpulsen sein, die den Forderungen der Über-Ich-Instanz ("Zensur") entgegenstehen (S. Freud). Da der psychosomatisch Kranke nicht als Objekt sondern als Subjekt im Verhältnis von Ich und Umwelt zu verstehen ist (V.v.Weizsäcker) kann man die Konversion unter dem Aspekt einer Spaltung der Ich-Umwelt-Relation, die bis zum Verlust der Identität führt, auch als Dissoziation (Auseinanderfallen) von Wahrnehmung und Bewegung bezeichnen. Zu den dissoziativen Störungen der Wahrnehmung gehört z. B. der Verlust der Erinnerung (psychogene Amnesie). Bei dissoziativen Bewegungsstörungen kommt es zu Anfällen oder zu einem vollständigen, aber vorübergehenden Verlust der Willkürbewegungen (dissoziativer Stupor).
Bei einer Depersonalisationsstörung ist der Patient in seiner Selbstwahrnehmung derart verändert, daß er sich wie im Traum fühlt und seinen eigenen Körper wie einen Fremdkörper von außen her betrachtet. Angesichts eines lebensbedrohlichen Ereignisses (Unfall, Gewalttat) spaltet sich das Subjekt in einen erlebenden und in einen beobachtenden Ich-Anteil. Häufig ist nicht nur die Wahrnehmung für die eigene Wirklichkeit, sondern auch für die Umgebung dissoziiert, so daß das Gefühl für die Wirklichkeit der Außenwelt fehlt und vertraute Personen dem Patienten fremd erscheinen (Derealisation).
Attackenförmig einsetzende Symptome, wie paroxysmaler psychogener Schwindel und Tremor, treten meist mit Angst oder stellvertretend für Angst in ambivalenten Lebenssituationen auf und können nach einem "Schwanken" zwischen zwei Möglichkeiten einen Rückzug aus dem Konflikt signalisieren. Libidinös-aggressive und zugleich beängstigende Triebimpulse werden abgewehrt, dissoziiert und konvertiert. Unsicherheit der Geschlechtsrolle verstärken die Konversion. (...)
Therapie
Mit der Anamese beginnt das psychotherapeutische Gespräch (Erstgespräch). Der Dialog nimmt Erinnerungsspuren auf. Der Therapeut geht mit Empathie auf die Beschwerden, Assoziationen, Vorstellungen und den inneren Bezugspunkt des Kranken ein; er vermittelt ihm, daß er ihn verstanden hat. Denn der Patient erwartet, daß der Therapeut mit einfühlendem Verstehen genau das ausdrückt, was er denkt, ihn als Gesprächsparnter akzeptiert und respektiert, besonders, wenn er sich selbst als wertlos empfinden sollte. Gelegentlich wird mit einer assoziierten Erinnerung ein "Aha-Erlebnis", eine "blitzartige Erkenntnis" ("flash") ausgelöst. Dies setzt voraus, daß der Arzt sich Zeit nimmt und Gesprächspausen zuläßt, ob der Kranke nun wortreich oder einsilbig spricht.
Selbst das Schweigen ist "beredt" und daher auch zu verstehen: Mimik und Gestik drücken aus, was er in der Therapie (noch) nicht sagen kann. Während oder unmittelbar nach der neurologischen Untersuchung teilt sich der Patient meist eindeutiger mit als zuvor. Er gibt nun körperbezogene Fingerzeige und Stichworte, wie "es geht nicht mehr" (z. B. bei einer funktionellen Lähmung und Libidostörung), oder es fallen Versprecher auf, bei denen es auf jede Silbe und jeden Laut ankommt. Denn die fast unmerklichen Versprecher wie z. B. "Muttagsschlaf" oder die korrigierten Versprecher "Orgasminus, nein Organismus" deuten nicht selten einen verdrängten Konflikt an. Der Kranke kommentiert unwillkürlich das Grundthema seines Konfliktes, den sein Körper symbolisch ausdrückt.
Ein wichtiges Element der Therapie ist die Interpretation szenischer Vorgänge, die Patient und Therapeut gemeinsam analysieren können. Lebensgeschichtlich bedingte, positive (freundlich-vertrauensvolle) oder negative (mißtrauisch-feindselige) Affekte des Patienten gegenüber seinen Eltern und Geschwistern werden unbewußt auf den Therapeuten projiziert (Übertragung), der seinerseits - je nach Alter und Geschlecht - väterliche, mütterliche oder kindlich-geschwisterliche Gefühle für den Kranken entwickelt (Gegenübertragung), sich dieser Affekte jedoch nicht immer bewußt wird. Erst die Analyse dieser Übertragungsbeziehung führt zum Verständnis reinszenierter Vorgänge, z. B. einer hilflos-kindlichen Regression.
Nach dem Erstgespräch kann die Indikation zur Psychotherapie gestellt werden. Neben den unterschiedlichen Methoden der Einzelpsychotherapie (Psychoanalyse, analytische Psychotherapie, fokale Kurzzeittherapie, Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie u.a.) kommen gruppentherapeutische, systemische Verfahren (Familientherapie), präverbale, kreative Gestaltungstherapien und Selbsthilfegruppen für psychosomatisch Kranke in Betracht.
Verlauf
Wenn ein auffälliger Symptomwandel im Verlauf psychogener oder neurologischer Erkrankungen eintritt, ist wiederum sowohl die Phänomenologie als auch die Psychodynamik der Krankheitsverläufe zu beachten. Während unter der Psychotherapie die Beschwerden anfangs zunehmen, klingen sie wieder ab, sobald Arzt und Patient ein tragfähiges Behandlungsbündnis herstellen, um den einfühlbaren Widerstand gemeinsam zu analysieren und zu überwinden. Jede fachgerechte, angstlösende Psychotherapie mit scheinbar geringen Fortschritten ist besser als Polypragmasie (wiederholte technische Untersuchungen und invasive Eingriffe mit unerheblichen Befunden, Langzeitverordnung von "Anxiolytike"), die Patient und Arzt nur vorübergehend beruhigt, aber psychogene Störungen nachhaltig verstärkt, iatrogen fixiert und neue Symptome hervorruft.
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Forum Psychosomatik 1. Halbjahr 1997
Gefühle zulassen - Klartext reden - lebendig werden
Tiefenpsychologisch orientierte Körpertherapie in der Gruppe
Seit April 1995 gibt es in Köln ein Gruppenangebot für tiefenpsychologisch orientierte Körpertherapie. Begründer dieser Therapieform, bei der Gespräche und Körperarbeit einander ergänzen, ist der Dipl.-Psych. Hans Krens von der International Academy for Body Therapy (IAB), Nimwegen, Niederlande. Hans Krens hat u.a. auch mit MS-Betroffenen KlientInnen erfolgreich gearbeitet. In der Therapie wird die Methode des direkten Körperkontaktes zwischen TherapeutIn und KlientIn eingesetzt, dies soll zur Unterstützung bei der Lösung innerer Blockaden und Spannungen, versteckter Gefühle und gestauter Energie dienen. Die MS wird hier eindeutig als psychosomatische Erkrankung bewertet. Die Gruppe - bisher ausschließlich MS-Betroffene - bestand anfänglich aus 10 Personen und erlebt nach Beendigung der jeweils vertraglich vereinbarten Sitzungszyklen häufige Wechsel von TeilnehmerInnen. Ab Januar 1997 wird sich der verbliebene "harte Kern" nach einer erneuten Probierphase für die Neuen möglicherweise um eine Frau und drei Männer auf 8 Personen verdoppeln. Die Treffen umfassen derzeit ca. eine vierstündige Sitzung im Monat. Geleitet wird die Gruppe von Doris Keilen und Bernhard Werner, sie erhielten an der IAB die Ausbildung in tiefenpsychologischer Körpertherapie. Im folgenden berichten drei Gruppenmitglieder - Kirsten Kopp, Regine Abels und Volker Kühn - von ihren Erfahrungen mit der Therapie. Wir weisen darauf hin, daß sich die folgenden Ausführungen auf den derzeitigen Erkenntnis- und Erfahrungsstand gründen, den wir bisher aus der Therapie gewonnen haben. Unsere Schilderungen sind von rein subjektiver Natur und entsprechen unserem aktuellen Erleben des Therapiegeschehens bzw. Verständnis der psychosomatischen Hintergründe unserer Erkrankung.
Vor der Schilderung der einzelnen Personen nun ein Artikel (bzw. Rede wähend dem Symposium) von Hans Krens aus dem Heft Forum Psychosomatik 29.11.97
Ich möchte gerne etwas sagen über die tiefenpsychologische Körpertherapie und noch ein Wort zu unserer MS-Studie. Für die tiefenpsychologische Körpertherapie, um das gut darzustellen, brauche ich also einige Stunden, insofern geht das nicht in 10 Minuten, aber ich werde doch sagen, was unser Anliegen ist. Wir betrachten den Menschen ab dem Moment, wo er entsteht. D.h. im Vorfeld gibt es den Kinderwunsch der Eltern, dann gibt es die Befruchtung, den Akt an sich und danach entsteht ein Kind in der Gebärmutter, und das ist eine Zeit, an die wir uns nicht erinnern. Unsere Erfahrung ist, daß unser Körper sich an diese Zeit sehr wohl erinnert. Unser Körper erinnert sich dieser Zeit in den Zeiten, in den Momenten, wo wir uns ausliefern, wo wir uns binden, wo wir uns an etwas Grenzenloses anknüpfen, das kann in der Liebe sein, das kann im Leben sein. Wir haben festgestellt, daß auch bei "Otto-Normal-Neurotiker" das natürlich der Fall ist, wenn sich in dieser Zeit etwas getan hat, nämlich daß eine lebensbedrohliche Situation vielleicht gewesen ist, daß die Nahrung im Mutterleib nicht so war, wie sie eigentlich hätte sein müssen, daran erinnern wir uns nicht, da kommen keine Bilder her, das ist im vorsprachlichen Raum.
Und unsere These ist, unsere Arbeitsrichtung ist, daß wir denken, daß, obwohl es bei jedem Menschen der Fall ist, daß jemand, der MS hat, der Körper sich an so eine traumatisierte Situation erinnert. Und das ist nicht nur, wenn es uns schlecht geht, wenn wir Probleme haben, wenn wir Streß haben, das ist auch und vor allen Dingen, wenn es droht, gut zu werden. Wenn es droht, gut zu werden, dann brauchen wir unsere Gedanken nicht, große Überlebenstrategien nicht, dann müssen wir nicht kämpfen, dann können wir uns sein lassen. Wir fühlen uns willkommen, wir dürfen sein. Und das ist die Richtung, wohin wir arbeiten. Wir sagen nicht, daß da die Lösung ist, dahin wollen wir forschen und das wollen wir auch als unsere Richtung betrachten.
Und jetzt habe ich 5 Minuten gehabt und ich wollte es dabei dann lassen. Wir schließen uns von den Theorien natürlich an bei psychoanalytischen Theorien, aber dann in dem vorsprachlichen Bereich, schließen wir uns zum Teil an bei den Gestalttheorien für diese "Hier-und-Jetzt-Bearbeitung" von Problemen - wie Kontaktversuche im "hier und jetzt", also es ist schon ziemlich vielschichtig, aber das Spezielle habe ich hier gerade genannt wo wir ansetzen, das wollte ich rüberbringen......
Kirsten: Von Anfang an nehme ich an der Gruppe teil. Nachdem ich im November 1994 einen Vortrag von Hans Krens gehört hatte, wußte ich: was er zur Psychosomatik der MS sagt, betrifft mich, und diese Therapie will ich am eigenen Leibe erleben. Am Zustandekommen und Weiterbestehen der Gruppe war ich wesentlich beteiligt, z. B. indem ich durch Anzeigen im MS-Magazin bzw. Rundbriefe über die Stiftung Lebensnerv nach weiteren InteressentInnen suchte.
Hans Krens sprach in seinem Vortrag sehr locker von der MS als einer Art "Erkältung, sie kann irgendwann kommen, aber auch wieder gehen..". Diese Aussage nahm ich zweifelnd - ich bin immerhin seit 1981 von dieser inzwischen chronischen Erkältung betroffen. Nach meinem derzeitigen Verständnis von Krens´ Arbeitshypothese zur Entstehung der MS verhinderte frühkindlicher, auch schon vorgeburtlicher Streß, daß sich natürliche Impulse entfalten konnten, z. B. die Lust, sich nach eigenen Bedürfnissen zu bewegen und nach dem Leben zu greifen. Dies führte zu einer eher lebensverneinenden Haltung. Wegen befürchteter negativer Folgen wurden Gefühle und Bedürfnisse unterdrückt. Das Nervensystem versuchte, diesen Mangel zu kompensieren (lieber viel denken als irgendetwas fühlen) und war damit überfordert. Der selbstzerstörerische Prozeß in Form der MS kam in Gang. Das Anliegen der tiefenpsychologisch orientierten Körpertherapie ist es, auf die Entwicklung eines Einklangs zwischen Denken, Fühlen und Handeln hinzuwirken. Weg von innerer Erstarrung und lähmendem Energiestau - hin zur natürlichen und lustvollen Lebendigkeit - dies ist für mich die Leitlinie meines Therapieprozesses, der seit Anfang 1996 zusätzlich zu den Gruppentreffen auch Einzelsitzungen beinhaltet.
Die Therapie wirkt auf mich immer wieder wie ein Energieschub. Schon nach dem ersten Gruppentreffen spürte ich dies sehr intensiv. Ich fühlte mich mehr erfrischt als ermüdet. Es war, als ob ein belebender Energiestrom durch meinen Körper pulsierte. Nachdem wir uns an diesem Abend durch Spiele kennenlernten, folgte eine Feldenkrais-Übung auf dem Boden. Danach bewegten wir uns zur Musik durch den Raum, nahmen Körperkontakt zueinander auf, machten eine Rücken-an-Rücken Partnerübung und in Klein- als auch Großrunden wurden wir zwischendurch und zum Schluß zu Gesprächen über das Erlebte angeregt. Das Verhalten eines der Therapeuten stieß auf Kritik und war für einige der Anlaß, schon während oder nach der dreimonatigen "Probierphase" auszuscheiden. Mir hatte es gerade gefallen, daß der Therapeut zu einer Teilnehmerin ganz konkret sagen konnte, er habe gerade keine Lust, das zu tun, wozu sie ihn aufgefordert hatte. Ich beneidete ihn, denn wenn ich selbst keine Lust habe, tarne ich dies vor anderen oft mit "Keine Zeit" oder "zu müde"-Ausreden. Auch gefiel mir, daß der Therapeut auf die Frage eines Teilnehmers, ob er sich mit MS auskenne, antwortete, MS sei für ihn nichts Besonderes. Ich deutete dies so, daß Menschen mit MS für ihn "nur" in ihrer Eigenschaft als menschliche Individuen etwas Besonderes sind und nicht etwa, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung einer besonderen (Schon)behandlung bedürfen.
Einzel- und Gruppentherapie ergänzen sich für mich sehr wohltuend. In der Gruppe erfahre ich von den anderen Nähe, Verständnis, Bestärkung und Rückmeldung, auf der Gesprächsebene und auch bei den Übungen mit direktem Körperkontakt. Die Therapeuten hinterfragen immer wieder unser oft "kopflastiges" Reden und animieren uns mit geduldiger Beharrlichkeit, Klartext zu reden, uns mit unseren versteckten Gefühlen wie Ärger, Eifersucht, Traurigkeit, Angst füreinander deutlicher und spürbarer zu machen. Bei den Körperübungen können sich oft meine inneren Spannungen lösen, z. B. bei verstärkender Begleitung meiner Atmung durch eine/n Partner/in. Ich habe inzwischen nur noch selten mit Spannungsbauchschmerzen zu tun, auch meine Atmung ist tiefer und bewußter geworden. Daß ich verstärkte Lebensenergie - diese auch in Form verringerter Ermüdbarkeit - spüre, erkläre ich mir so, daß die Energie, die ich lange Zeit zur Unterdrückung selbstverbotener Gefühle brauchte, allmählich freigesetzt wird. Gleichzeitig wird mir erst in letzter Zeit bei der Gruppenarbeit bewußt, daß ich noch oft meine Bedürfnisse hinter die Bedürfnisse anderer stelle, mich damit unwichtig mache und mich dann ohnmächtig fühle. Eine Überkompensation dieser scheinbaren Ohnmacht durch die "Macht" meiner Behinderung und der damit verbundenen Krankheitsgewinne würde das Krankheitsgeschehen vorantreiben. Ich will mit Hilfe der Therapie weiter lernen zu verinnerlichen, daß ich mit meinem Erleben und meinen Bedürfnissen genauso wichtig bin wie andere Menschen auch, das ist meine Chance, zu mehr Authentizität und Lebendigkeit zu gelangen. Und wenn diese Entwicklung einherginge mit zunehmender körperlicher Stabilisierung, wäre das ein zusätzliches wunderbares Geschenk.
Regine: Im Oktober 1980 habe ich die Diagnose MS bekommen. Das erste Symptom hatte ich aber schon im Januar 1969 an einem Auge. Seit 1980 habe ich einen eher chronischen Verlauf und gehe inzwischen an einem Rollator. Ich habe vieles unternommen gegen die Krankheit, wie mir scheint, ohne deutlichen Erfolg. Am meisten verspreche ich mir immer noch von dem psychosomatischen Zugang.
Im September 1995 bin ich zu dieser Gruppe gestoßen, durch einen Brief der Stiftung Lebensnerv. Ich hatte schon lange so etwas gesucht, da ich in den mir bekannten Selbsthilfe-Gruppen zwar Unterstützung in physiotherapeutischer und medizinischer, aber nicht in psychosomatischer Hinsicht fand. Die Kombination aus Gespräch und Körperarbeit innerhalb der Gruppe und mit den Therapeuten ist genau das, was ich brauche. Ich kann meinem Körper die Chance geben, mir seine früh und tief eingefleischten Botschaften zu vermitteln und sie dann mit dem Kopf aufzunehmen und einzuordnen, ohne an analytischen Spekulationen hängen zu bleiben. Mein Körper ist die Instanz, auf die ich mich beziehen und mich verlassen kann.
Im Vergleich zu anderen Therapieformen, die ich bisher ausprobiert habe, bin ich mit der tiefenpsychologischen Körpertherapie an Bereiche und Zeiten meines Werdens gekommen, an die ich keine bewußte Erinnerung habe, die meine Seele dennoch umtreiben, d.h. an meine frühkindliche und Embryonalzeit. Dort sitzen unbekannte Verletzungen, Verletzlichkeiten, auch Bedürftigkeiten, die in Gefühlen, manchmal auch Bildern, an die Oberfläche kommen können und so an schädlichem Einfluß verlieren. Außerdem kann ich mich auf meiner bewußten Ebene auf ungeübten Konfliktfeldern mit Gruppenmitgliedern und Therapeuten auseinandersetzen. Hier bekomme ich das Gefühl, ernst genommen zu werden, und ds Recht, die Impulse benennen und leben zu dürfen, die in meinem herkömmlichen Umfeld als abwegig betrachtet wurden. Andererseits darf ich mich getragen fühlen - von der Gruppe, von der Partnerarbeit, von der Arbeit mit den Therapeuten. Vielleicht antwortet der Körper ja irgendwann auf solch ein gesundes psychisches Umfeld, das ich mit in meinen Alltag nehmen kann.
Volker: Über meine Erfahrungen mit der tiefenpsychologischen Körpertherapie oder Das Ende der Erstarrung und die Entdeckung der Lebendigkeit
Während der Kur im Spätsommer 1994 erlitt ich einen erneuten MS-Schub. Die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit war ausgeschlossen. Der Antrag auf Rente wurde bewilligt. Da saß ich nun daheim, finanzielle oder sonstige Sorgen gab es nicht. Ich hätte mich also ruhig zurücklehnen und das Leben genießen können. Das aber gelang mir nicht. Meine "Gespenster", die mich nie losgelassen hatten, die mich immer wieder heimsuchten und die ich nur zeitweilig verdrängen konnte, tauchten wieder auf, häufiger und stärker als zuvor. Sie wurden meine ständigen Begleiter.
Diese Begleiter waren allgegenwärtig, unfaßbar und erschienen in vielerlei Gestalt: Als Scheu vor Kontakten und Kommunikation, als Furcht vor Betätigung, als Angst vor Unbekanntem, als Gefühl der Minderwertigkeit, als Gefühl, "niemand" zu sein, als Selbstverleugnung, als Verdrängung eigener Wünsche und Gefühle, als Furch vor der Selbstbehauptung, als Beklemmung und Einsamkeit, als körperliches Unwohlsein mit vielerlei Beschwerden, als Verminderung der Beweglichkeit, als Erstarrung.
Immer mehr zog ich mich in mich selbst zurück, schlich unhörbar durch die Wohnung, wollte keinem zur Last fallen, verlor Appetit und Gewicht, fühlte mich unverstanden, isolierte mich, bekam häufig und bei jeder nicht genehmen Situation/Angelegenheit körperliche Beschwerden. Mein Körper verspannte sich, das Atmen wurde zum Problem, ich "vergaß" zu atmen oder staute den Atem. Das Schlafen machte mir Angst, dauernd kontrollierte ich, ob nicht jemand, der "große schwarze Mann", im Zimmer sei.
Mein Tag-Nacht-Rhythmus kam durcheinander. Auch tagsüber war ich oft im Bett, lag ausgestreckt auf dem Rücken, unbeweglich und ganz steif. Jeder Versuch, abzuschalten und zu entspannen, mißlang. Alle Bilder, Gedanken verformten sich, wurden dunkel, düster, mutierten zu Fratzen oder Monstern. Aus einem schönen Baum mit grünen Blättern wurde ein Ungeheuer, das mich zu verschlingen drohte.
Diese schrecklichen Erscheinungen und deprimierenden Gedanken erfaßten mich mehr und mehr. Mein Weg als MS-Kranker bis zur völligen Unbeweglichkeit schien mir unaufhaltsam. Arztbesuche wurden meine Hauptbeschäftigung. Das war meine Situation. An diesem Punkt, im Frühjahr 1995, bekam ich den ersten Kontakt mit der Methode der tiefenpsychologischen Körpertherapie.
Da wurde die MS nicht nur von der Seite der körperlichen Erkrankung her gesehen, sondern auch als Erkrankung der Seele, als Krankheit gegen mich selbst. Dementsprechend ist die Idee der tiefenpsychologischen Körpertherapie ja auch, nach den krankheitsauslösenden psychischen Ursachen und den daraus resultierenden (falschen) Verhaltensweisen zu forschen. Diese sollen dem Betroffenen bewußt werden, er soll sie ansprechen können und in die Lage versetzt werden, dagegen anzukämpfen.
Das faszinierte mich. An die erste Stunde erinnere ich mich gut. Die Übung bestand zunächst darin, sich paarweise Rücken an Rücken zu setzen und den Rücken des Partners zu erspüren, sich daran anzulehnen, sich in Bewegungen einzufühlen, selbst dem anderen auch Stütze zu sein, den eigenen Bewegungsempfindungen nachzugehen und die des Partners aufzunehmen und/oder den Aggressionen des anderen zu widerstehen, sich zu behaupten und die eigenen aggressiven Gefühle freizulassen. Dabei sollten gleichzeitg die Empfindungen durch entsprechende Wohllaute oder böses Knurren hörbar herausgelassen werden.
Für mich war dies ein völlig neues Erlebnis, eine neue Erfahrung, mich anlehnen zu dürfen, mich weich und schwach zeigen zu können und auch meinen aggressiven Gefühlen offen nachzugeben.
Im Anschluß daran äußerte jeder dem Partner gegenüber seine Empfindungen und Gefühle während der Übung. Mich auszudrücken, fiel mir schwer: Einzugestehen und offen auszusprechen, wie angenehm und wohl ich die Anlehnung an den Rücken des Partners empfunden und wie gut es mir getan hatte, mich anzulehnen, Wärme und Festigkeit zu verspüren. Dabei wurde mir erstmals bewußt, daß ich das Bedürfnis nach Anlehnung bislang immer unterdrückt, verdrängt und nie herausgelassen hatte. Abschließend wurde dann in der Gruppe die Frage behandelt, ob wir uns als Kinder "anlehnen" konnten, ob wir "Rückenstärkung" erhielten und auf welche Art und Weise dies geschehen war. Oder ob wir mit unseren kindlichen Problemen, Nöten und Ängsten allein gelassen wurden oder gar nur Spott und Ablehnung erhielten.
Manche erinnerten sich ganz spontan. Ich konnte das nicht. Meine Erinnerung war wie durch einen unheimlichen Sperrmechanismus blockiert, ein großer Druck lastete auf meiner Brust. Die Übung wirkte dennoch. Die Frage, wie das bei mir war, ließ mich nicht los und beschäftigte mich mehr und mehr.
Die folgenden Stunden knüpften an die vorausgegangenen an. Immer wurde zunächst die letzte Stunde reflektiert und was sie gefühlsmäßig in uns bewirkt, ausgelöst hatte, bevor ein weiteres Thema, z. B. über die Angst mit darauf abgestimmten partnerschaftlichen Übungen, begonnen wurde. Diese Therapiestunden mit den Übungen, Gesprächen und Fragen und den Erkenntnissen und Selbsterfahrungen waren für mich keine gemütlichen Plauderstündchen nach dem Motto, so, liebe Therapeuten, nun macht man schön und laßt es uns gut gehen, sondern harte, oft schmerzhafte Arbeit an mir selbst, die von mir Kraft und Überwindung forderte. Manchmal gab es auch "nur" den Wunsch nach Entspannung und Ruhefindung.
Ich bekam Ahnungen und Vermutungen über meine frühe Kindheit, die Situation meiner Eltern. Allmählich formte sich das Bild und plötzlich, während einer Übung, ich erinnere micht nicht, worin sie im einzelnen bestand, brach es aus mir heraus, der Panzer platzte, und ich sah mich als Baby, sah meine Mutter, die Situation in dieser steifen, kalten, schönen Wohnung und spürte ihre Gefühle der Ablehnung, der Kälte, der Pflichterfüllung, mich gebären zu müssen. Alles war ganz klar und gegenwärtig. Das war ein emotionales Beben bis zur körperlichen Erschöpfung.
Erstmals war es mir gelungen, ein Stückchen meines Daseins und meines echten Empfindens bloßzulegen und mit bewußt zu machen. Ich empfand eine große Befriedigung, eine Befreiung. Diese erste Erkenntnis ist beispielhaft für viele weitere Entdeckungen, die ich unter der therapeutischen Anleitung und zum Teil in Einzelsitzungen erarbeiten konnte. Wie ein Puzzle füllte sich im Laufe der Therapiestunden das wahre Bild von mir.
Langsam wurden mir meine Lebensstationen mit erlittenen Verletzungen, den Demütigungen, den Verbiegungen, den Zwängen und Ängsten klar. Ich begann, mir meiner verletzten Gefühle und Empfindungen bewußt zu werden, sie einzugestehen und darüber in der Gruppe und auch außerhalb zu sprechen.
Gleichzeitig lernte ich, meine Gefühle herauszulassen, Freude und Lust empfinden und fordern zu dürfen und (zunächst) im Umgang/Zusammensein mit der Gruppe, meine Hemmungen, meine Reserviertheit, meine Starre schrittweise abzulegen.
Ich entdeckte mich selbst, den wahren Volker, den Menschen, der ich tatsächlich bin. Heute, fast zwei Jahre nach Beginn der tiefenpsychologischen Körpertherapie ist für mich klar, daß ich letztlich entscheidende und krankheitsauslösende Ursache bei mir, in meinem verbogenen, verkümmerten, unterdrückten Gefühlsleben zu finden ist, also einzig psychische Gründe hat.
Da ist die erlittene Ablehnung, die nie empfangene Zuwendung, Wärme, Geborgenheit, das erzwungene Verlangen, Verdrängen aller Gefühle und Empfindungen, die Reduzierung meines Lebens auf ein Dasein für Funktionen und Pflichterfüllungen.
So habe ich von Geburt an bis zur vollen Erkrankung perfekt funktioniert als pflegeleichtes, problemloses Baby, gehorsames, pflichtgetreues Kind, gefügiger, guter Schüler, strebsamer, ehrgeiziger Abendschüler, dienstbesessener, vorschriftsbeflissener Soldat/Offizier, prinzipienhafter, gefühlsarmer Vater, umsatz- und renditegetriebener Abteilungsleiter, kompromißloser, angepaßter Revisor, systemfixierter, perfektionistischer Zentraldisponent.
Die Therapie hat mich erkennen lassen, daß diese Funktionserfüllungen mit fortdauernder körperlicher und geistiger Überforderung und Entsagung, Zurückstellung aller meiner Wünsche und Bedürfnisse verbunden waren. Diese Tatsache habe ich unbewußt, bewußt verdrängt, nicht wissen wollen.
Das war ganz einfach. Als Kind und Jugendlicher hieß es von meinem Vater, "das" (die Wünsche, Ansprüche) machen "wir", gemeint war ich, "später". Später betrog ich mich dann selbst, indem ich mir vormachte, wenn du "das" erreicht, geleistet hast, "dann" darfst du dir deine Wünsche/Bedürfnisse erfüllen. Dann darfst du glücklich sein! Nur, daraus wurde nie etwas. Nach jeder erfüllten Aufgabe war die nächste schon da. So hetzte ich wie ein Hund mir vor der Nase baumelnder Wurst durch mein Leben. Nur, um im Bild zu bleiben, zu schnappen, zu fressen, bekam ich die Wurst nie. Meine Erkrankung begreife ich jetzt als zwangsläufige, verzweifelte Reaktion, um dieses elendige, unerfüllte, glücklose Dasein zu beenden: Die MS als Rache der mißhandelten Seele am Körper bzw. die MS als Endpunkt eines nicht gelebten Lebens, eine Art Selbstmord.
Was hat mir diese Behandlung gebracht? Was hat sich bei mir geändert? Meine "Gespenster" habe ich besiegt, auch wenn die negativen Gefühle hin und wieder mal auftauchen. Das empfinde ich als zum Leben zugehörig, wie Freude und Geselligkeit.
Ich bin ein anderer geworden. Lebendiger, wärmer, beweglicher. Beweglicher im doppelten Sinn. Sowohl in meinen Gefühlen/Empfindungen als auch körperlich. Ja, ich kann mich viel besser bewegen und auch besser laufen als vor Beginn der Therapie.
Meine "Standardstrecke", die ich damals nur unter größten Anstrengungen und erheblichem Zeitaufwand und anschließender Ruhe bei Verzicht auf alle weiteren Betätigungen bewältigen konnte, laufe ich heute problemlos, auf zweimal am Tag und ohne nennenswerten Verzicht auf Dinge. Jeden Tag erlebe ich neu, neugierig. Ich habe das Gefühl, mein Leben zu beginnen. Mein seelisches Befinden ist mir ganz wichtig geworden. Nicht die reibungslosen, perfekt organisierten Geschehensabläufe.
Während ich früher alles bis in Detail, einschließlich Tagesablauf mit Gang zur Toilette, penibel vorausgeplant und bei allem Unvorhergesehen in Panik geriet, weil es nicht von mir einkalkuliert war, lebe ich jetzt spontaner, intensiver, natürlicher, fröhlicher, Spaß statt Krampf also, ohne dabei in rücksichtslosen Egoismus oder heilloses Chaos zu verfallen.
Ich freue mich am Leben und bin neugierig, was kommt. Dank sagen möchte ich an dieser Stelle meinen Therapeuten, die mich bis hierher geführt haben und allen Gruppenmitgliedern für ihre Begleitung. Das Ziel der Behandlung sehe ich darin, heil, ganz zu werden. Die Versöhnung der Seele mit dem Körper. Dieses Einssein ist für mich der Schlüssel zur körperlichen Gesundung. Die Frage, ob die tiefenpsychologische Körpertherapie heilen kann, habe ich für mich beantwortet: Ja.
(Ich kann mich erinnern, daß mich damals der Artikel von Volker zutiefst berührt hat. Was er so schreibt, ist mir nicht fremd. Auch ich dachte mir nach der Diagnose schon "Jetzt hat die Seele zum Körper gesagt: Brich doch endlich mal zusammen, sonst merkt sie nie was sie mir antut.". Auch ich bin der Meinung, daß Krankheit die Ursache im seelisch-geistigen Bereich hat und Gesundung darin besteht, Körper, Seele und Geist Eins werden zu lassen.)
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Forum Psychosomatik 2. Halbjahr 1997
Subjektive Krankheitstheorien bei MS
"Mit meiner MS bin ich endlich vollständig" - "Die Krankheit war die positive Wende in meinem Leben" - "Die MS gibt mir die Möglichkeit, so zu sein, wie ich bin". Eine ungewöhnliche Sichtweise ihrer Erkrankung spiegeln diese drei subjektiven Aussagen von MS-Betroffenen.
Ungewöhnlich deshalb, da sie mit den herkömmlichen Vorstellungen von dieser Krankheit nicht konform gehen, und nach wissenschaftlichen Untersuchungen die meisten MS-Betroffenen ein anderes Verhältnis zu ihrer Krankheit haben. So berichtet Muthny 1992 in einer Studie über "Laienatiologie und Krankheitsverarbeitung", daß MS-Betroffene für ihre Erkrankung am häufigsten die Vererbung, dann Alltagsstreß, drittens hohe Selbstansprüche, viertens berufliche Belastungen und erst an letzter Stelle seelische Belastungen verantwortlich machen. Außerdem geben MS-PatienInnen hohe Depressionswerte und niedrige Lebenszufriedenheit an. Wenn also die subjektive Sichtweise einer (nicht veränderbaren) Vererbung zugrunde liegt, und das Modell einer "depressiven Verarbeitung" der Erkrankung die Regel ist, so liegt der Schluß nahe, daß diese Sichtweise einer konstruktiven Lebensgestaltung mit der MS erschwert.
Doch zunehmend beschäftigen sich betroffene und nichtbetroffene ExpertInnen mit einer ganzheitlichen Sichtweise, die über den reinen symptomorientierten Zugang zur MS hinausgeht: "Krankhafte Prozesse sind kreative Versuche des psychophysischen Organismus, mit Belastungen durch die physische und psychosoziale Umgebung umzugehen", schreiben Uexküll/Wesiack 1996. Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Organismus (meist unbewußt) sinnvolle Problemlösungsstrategien verfolgt, die ihm bei einer Belastungssituation wieder zu einem "Gleichgewicht" oder zu einer "Vollständigkeit" im weitesten Sinne verhelfen. (Fällt mir spontan eine Aussage von Dahlke ein, daß die Krankheit am Menschen eigentlich das Gesündeste wäre.)
Dies schließt auch die Paradoxie mit ein, daß ein solches "Gleichgewicht" die Existenz einer Autoimmun-Krankheit wie MS und damit massive Beeinträchtigungen beinhalten kann. Bei einer solchen Betrachtung von MS als "Lösungsversuch" könnte nun manche/r auf die Idee kommen, dies bedeute, daß man oder frau "selbst schuld" sei. Das ist natürlich nicht der Fall, denn niemand hat sich bewußt, also schuldhaft die Krankheit MS erschaffen. Ganz im Gegenteil ist es bedauerlich, daß dem Organismus keine andere Lösung "einfiel", als diese selbstzerstörerische Krankheit. Man/frau hat also keine "Schuld", dennoch trägt jede/r die "Verantwortung" dafür, wie er oder sie sich mit der Bedeutung der Krankheit auseinandersetzt. Dies gilt auch und gerade für die Kooperation mit medizinischen und psychotherapeutischem Fachpersonal, denn "der diagnostische Prozeß beginnt mit der Selbstinterpretation des Kranken (=subjektive Krankheitstheorie) und der Inanspruchnahme des Artzes", wie Uexküll/Wesiack 1996 betonen.
Bereits in der letzten Ausgabe von Forum Psychosomatik hatte Hanses am Beispiel der Epilepsie dargelegt, "daß die subjektiven Sichtweisen und Bedeutungszuweisungen gegenüber der eigenen gesundheitlichen Situation eine entscheidende Wichtigkeit für den Verlauf der Erkrankungs- und Gesundungsprozesse haben". Neuere Ergebnisse aus der Copingforschung (coping = Bewältigungsstrategien) belegen in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der "privaten Selbstaufmerksamkeit", d.h. der Tendenz, die Aufmerksamkeit stark auf die eigenen Gefühle und Körperempfindungen zu richten. In einer Studie von Suls und Fletcher zeigte sich, "daß die Ausbildung psychosomatischer Symptome nach der Konfrontation mit belastenden Lebensereignissen nur bei Personen mit geringer Selbstaufmerksamkeit, nicht aber bei Personen mit hoher Selbstaufmerksamkeit zu beobachten war."
Wenn wir an dieser Stelle dafür plädieren, sich mit der eigenen Bedeutungsweise zu beschäftigen, so heißt dies jedoch nicht, daß damit die Symptome zwangsläufig weniger werden. Was aber geschehen kann, sind erste Schritte aus der erlebten Hilflosigkeit und damit aus der Depression. Wir möchten Ihnen deshalb - ohne weiteren Kommentar - in dieser Ausgabe 6 unterschiedliche Beispiele subjektiver Krankheitstheorien vorstellen.
Herr A.: Im Mai 92 nach dem Auftreten von Gehstörungen, Parästhesien - also Mißempfindungen am Körper - und einer leichten Sehstörung wurde bei mit MS diagnostiziert. Bei mir scheint glücklicherweise ein gutartiger Verlauf vorzuliegen, ich lebe seit zwei Jahren weitgehend symptomfrei. Was bleibt, ist eine latente Bedrohung. Wird es morgen schon anders sein?
Vater und ich - Gleichgültigkeit
Ich habe meinen Vater kaum erreichen können. Das Monopoly-Spiel mit ihm endete mit einer Ohrfeige für mich. Ich erinnere mich nicht, daß er je in Frieden mit mir gespielt hätte. Radfahren, Ballspielen, Schwimmen habe ich auf der Straße im Kontakt mit anderen Kindern gelernt. Meine handwerklichen Fähigkeiten habe ich mir von älteren Freunden abgeguckt und dann in der Lehre vertieft. Mein Vater hat sich für mein Leben nicht interessiert und mich an seinem Leben nicht teilnehmen lassen.
Ich war so gerne an seiner Seite, hätte ihn so gerne für mich eingenommen, war jedoch in den wenigen Situationen, in denen es möglich gewesen wäre, nicht in der Lage dazu. Nachdem mein Bruder ihm einmal widersprochen hatte - er wollte nicht mit auf den Spaziergang - und dafür verprügelt wurde, habe ich meine Meinung lieber für mich behalten. Das hatte eine nachhaltige Wirkung. Ich blieb still an seiner Seite. Ich hatte längst aufgegeben, um ihn zu werben, wußte auch nicht, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenken konnte.
In der Schulzeit ging es noch am ehesten, wenn ich die Leistungen, die er von mir forderte, verzögerte oder verweigerte. Später spürte ich mehr und mehr nur Gleichgültigkeit mir gegenüber. Als ich mit 15 Jahren mit Angst und Herzflattern vom Opiumrauchen auf meinem Bett lag, und Mutter sich um mich kümmerte, bleib er vor dem Fernseher sitzen, sprach mich auch später nie darauf an.
Mein Vater hat immer aus dem Vollen gelebt, hat nie seine Affären zu anderen Frauen verheimlicht. Seine Aufgabe, nämlich die Beziehung zu seiner Ehefrau zu gestalten, hat er an mich delegiert. Er ist nie auf die Idee gekommen, daß ich unter der Sorge um die verlassene Mutter und seiner Abwesenheit gelitten habe.
Im Gegenteil: ich habe vielmehr seine Eifersucht und seine Konkurrenz im Gefühl, die sich später noch bemerkbar machten, wenn er mit meinen Freundinnen flirtete.
Er war auf meine Verwöhnung durch Mutter eifersüchtig, doch gleichzeitig hat er alles getan, damit es dazu kam. Mir ist, als hätte ich ihm etwas weggenommen, das ich aber nie haben wollte.
Mutter und ich - Verwöhnung
Meine Mutter hat mich zu ihrem Verbündeten im verdeckten Kampf gegen den Vater gemacht. Mutter und ich teilten ein Geheimnis, nämlich dem Vater sei nicht zu trauen, und ich sei der bessere Mann, das heißt der, der sie nicht hintergehen oder verlassen würde. Ich war "ihr Bester". Dahinter verbarg sich auch die Forderung: mach Du mir nur keinen Kummer, ich bin mit der Situation sowieso schon überfordert. Ich war es, der sie aus ihrer depressiven Einsamkeit retten und ihr den fehlenden Ehemann ersetzen sollte. Dafür habe ich über Jahre viel Kraft verwendet.
Als Säugling fehlte mir ihre körperliche und gefühlsmäßige Nähe und Wärme. Sie ist nach meiner Geburt gleich wieder arbeiten gegangen. Einige Male überließ sie mich der Obhut von Bekannten, die mir als Kind große Angst machten, mit der Folge, daß ich mich sehr an Mutter anklammerte. Ich war ein verängstigtes Kind, das stillhielt, abwartete, sich an die Bedürfnisse anderer anpaßte und dann akzeptiert wurde, wenn es unlebendig war. Das war eine große Not.
Dann entdeckte mich meine Mutter als Liebesobjekt, von dem sie für ihre Verwöhnung alles bekommen konnte. Nun erfuhr ich eine enorme Aufwertung, in ihrer Nähe wurde ich zum selbstbewußten kleinen Mann, dem nichts schwerfiel. Mutters kleinen Kavalier nahmen sie, die Oma und die zahlreichen Tanten in der Verwandtschaft gerne mal in den Arm und schmusten mit ihm. Eine Rolle, die ich aufgrund meiner Bedürftigkeit annahm. Einerseits konnte ich mich in die Einsamkeit meiner Mutter gut einfühlen. Andererseits bekam ich so eine Menge Anerkennung und Zuwendung. Jedoch ging es nie um meine Bedürfnisse, die konnte ich schon gar nicht mehr spüren.
In der Kindheit warf mir meine Mutter Egoismus und Rücksichtslosigkeit vor, später äußerte sie, "das Leben mache ihr gar keinen Spaß mehr". Heute hat sie "sich damit abgefunden, daß ich mich anders entwickelt habe, als sie es sich gewünscht hat". Immer wieder höre ich den Appell daraus: "Bleib doch noch bei mir mein Junge."
Familienklima
Diese Konstellation, die Wilfried Wieck als Antibiose mit dem Vater und Symbiose mit der Mutter präzise charakterisiert, hatte fatale Folgen für mich. In diesem Familienklima, in dem offensichtliche und tiefgreifende Konflikte, nämlich die gestörte Beziehung zwischen meinen Eltern, über Jahrzehnte nicht zur Sprache kommen durften, entwickelte sich das wir-harmonisierende Verhalten mit meiner Mutter und die enorme Distanz zu meinem Vater. Eine Trennung wurde nie erwogen und so gab es eine stillschweigende Übereinkunft, keine Auseinandersetzungen zu führen. Daß die Ehe meiner Eltern längst kaputt war und ich zum Lebenspartner meiner Mutter avanciert, Bevorzugungen erfuhr, die meinen Vater und meinen Bruder eifersüchtig machten, durfte ich gar nicht merken. Wie oft hat Mutter mir meine Wahrnehmung auszureden versucht. "Das bildest du dir alles nur ein" oder "Der Vater meint es doch nicht so", mit diesen Sätzen hat sie mich oft beschwichtigt. Ich konnte noch nicht fragen: Ja, wie meint er es denn?
Ich habe mich in diese Familie eingefügt. Habe weder vom Vater noch von der Mutter gelernt, einen Konflikt auszutragen oder für meine Wünsche offen einzustehen. Die Gewaltandrohung durch den Vater und die Überfürsorglichkeit meiner Mutter ergänzten sich wirkungsvoll. Weder mit Vater noch mit Mutter habe ich die Auseinandersetzung riskiert. Ich habe in der Familie nicht gelernt, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.
Die eigene Krankheit verstehen
Meine Lebenssituation bei Ausbruch meiner Krankheit war von einigen Belastungen geprägt. Im September 1990 starb mein Vater. Ich konnte eine erste Annäherung in Gesprächen mit ihm nicht weiter vertiefen. Im Frühjahr des folgenden Jahres trennte sich meine damalige Partnerin von mir. Sie hatte sich für andere Lebensziele entschieden, für die Ehe und Kinder. Zusätzlich hatte ich einige Konflikte am Arbeitsplatz. Die Arbeit als Kundendienstmeister bei Porsche und die Abendschule jeden Tag überforderten meine Kräfte in dieser Zeit. Gleichzeitig versuchte ich, mich gegen die Attacken meiner Mutter zu wehren, die wiederholt versuchte, mich von meinen expansiven Schritten abzubringen. Die ersten Symptome bemerkte ich schon Ende 91, ich hatte Sensibilitätsstörungen in den Beinen und konnte schlecht laufen.
Ich sehe diese körperliche Symptomatik in einem engen Zusammenhang mit einer großen Angst vor Auseinandersetzungen und Trennungen und meiner erlernten resignativen Haltung.
Ich erfuhr jedoch schon in dieser Zeit eine Menge Unterstützung durch Wilfried Wieck und die Männergruppe. Ohne sie hätte ich diese Zeit nicht durchgehalten und mein Abi nicht geschafft. Sicherlich auch nicht den Mut aufgebracht, noch ein Studium zu beginnen. Dennoch hätte ich mir in der Therapie und bei meinen Freunden noch mehr holen können. Wenn ich es zu der Zeit schon besser gelernt hätte, um Hilfe zu fragen und zu werben.
Aus meine Erfahrungen und Literaturstudien ziehe ich folgende Schlüsse:
Nicht nur durch offensichtliche Vernachlässigung, sondern ebenso durch ein Verhalten der Eltern, die ihre Kinder zu ihrem einzigen Lebensinhalt machen, die sie überfürsorglich von allen Anforderungen und vermeintlichen Bedrohungen fernhalten wollen, die expansive Schritte ihrer Kinder durch Verwöhnung unterdrückend vereiteln, kann es zu psychischen oder somatischen Erkrankungen kommen.
Für eine Erkrankung könnte es unterschiedliche Gründe geben, beispielsweise:
Das Kind kann keine soziale Kompetenz erwerben. Ein Mangel an Beziehungsfähigkeit führt zu Beziehungsverarmung, die mit erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten gekoppelt ist.
Deshalb sehe ich es als naheliegend an, die biologischen Auswirkungen auch als psychologische Folgen anzusehen, und Krankheit als einen Weg zurück in die Gemeinschaft anzusehen, ohne das in der Kindheit erlernte Verhalten und den Lebensplan umfassen umstellen zu müssen. Dann hätte das Leiden bestimmte Zwecke:
- dem Erwachsenen sichert eine Krankheit das Maß an Versorgung und Zuwendung, das in der Kindheit eingeübt wurde;
- die Krankheit ermöglicht, daß man Anforderungen, denen man sich nicht gewachsen fühlt, weil man nie deren Bewältigung gelernt hat, ohne Bedrohung des Selbstwertgefühls ausweichen kann;
- durch die Krankheit wird die Unfähigkeit fortgesetzt, sich aus alten Abhängigkeiten zu befreien, z. B. sich von der einsamen Mutter zu entfernen.
Sind wir also für unsere Krankheiten selbst verantwortlich? Kann und sollte ich also meine MS vielleicht sogar als kreativen Versuch der Beziehungsaufnahme unter Beihaltung meiner Verwöhungstendenzen betrachten? Es bleibt ein mißlungener Versuch, weil es ja mit Leiden und einer permanenten Bedrohung verbunden ist.
Es fällt mir schwer, mich diesem Gedanken zu nähern. Jedoch deutet einiges darauf hin. Wenn ich manchmal jogge, kann ich mir sagen: für jemanden mit MS klappt das ja noch ganz gut. Da hilft mir das Symptom, meine eigenen Perfektionsansprüche zu relativieren. Es ist auch leichter, mich mit Gefühlen der Angst und Trauer zu akzeptieren und zu zeigen, wenn ich sie in Verbindung mit der Krankheit bringe. Ohne meine Erkrankung wäre mir der Ausstieg aus der - nicht zuletzt finanziellen - Sicherheit der Anstellung bei Porsche mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft noch schwerer gefallen. Es ist bequemer zu sagen, das kann ich nicht, anstatt: Ich will nicht. Ich habe oft versucht, die Freundschaft zu anderen Menschen über meine Hilfsbereitschaft zu erringen. Das ist grundsätzlich kein Fehler, jedoch bin ich manches Mal dabei über meine Kräfte hinausgegangen. Dann Grenzen zu ziehen oder Absagen zu erteilen, kann notwendig sein, führt sogar zu einer ehrlicheren Beziehung. Das wird durch eine Krankheit leichter gemacht. Ich bin eben nicht so perfekt und problemlos, wie meine Mutter mich gerne gehabt hätte.
Ausblick
Meine Vergangenheit kann ich nicht mehr beeinflussen, jedoch kann ich alles daran setzen, mein Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Nur durch das Verhandeln und Eintreten für meine Wünsche und Bedürfnisse - und das schließt Kritik ebenso wie Anerkennung mit ein - bin ich im lebendigen Austausch mit anderen Menschen.
Das schreibt mir als einem von Krankheit Betroffenen einerseits eine Verantwortung an dem Geschehen zu. Ich kann Krankheit nicht mehr als ein von außen plötzlich eintretendes Ereignis ansehen. Andererseits gewinne ich dadurch auch an Handlungsfähigkeit. Ich kann zumindest teilweise auf meine Krankheit Einfluß nehmen. Aus dieser Einsicht sollte der Mut folgen, die eigenen Gefühle ernstzunehmen. Die scheinbare Schwäche innerer Offenheit und Verletzlichkeit genauso wie das Zulassen von tiefer Sorge und Empörung führen zu einem beziehungsstiftenden verantwortlichen Handeln.
Und das macht gesund.
Frau B.: Seit 1949 bin ich (jetzt 65 Jahre) MS-betroffen. Zu der Zeit vor dem Beginn: Da gab es lange Strecken von negativem Erleben und viele Unstimmigkeiten. Vor allem in den Entwicklungsjahren hatte ich Schwierigkeiten. Mit dem "Auf-mich-zu-kommenden" wollte ich nichts zu tun haben. Diese Haltung habe ich noch "untermauert" mit der, vielleicht unbewußten, Überlegung: Besser, ich lehne etwas ab, als daß ich abgelehnt werde. Wenn ich jetzt über Autoimmun-Krankheiten lese, fällt es mir immer ein. Denn ich war ja damals sozusagen "mein bester Feind".
Ich gehöre zu den leichteren Fällen und habe in der langen Zeit rückblickend des öfteren festgestellt, daß sich die Krankheit bei mir zu einem guten Teil sehr positiv ausgewirkt hat. Es war für mich wie eine "Wende". Den wichtigsten Anstoß dazu bekam ich von einem Arzt, der auch gleichzeitig Psychotherapeut war. Er brachte mich dazu, mir Gedanken zu machen über mich und meine Einstellung zum Leben, und ich erfuhr plötzlich Verständnis und eine Portion Zuwendung. Es war irgendwie ein elementares Erlebnis.
Vorher wußte ich gar nicht, daß mir so etwas gefehlt hat. Als ich dann merkte, daß ich mir auch selber etwas geben konnte, hatte ich ein gutes Gefühl. Ich bekam Auftrieb, und mein Selbstwertgefühl ist auch gewachsen.
Bilanz: Bin zufrieden, ausgefüllt und mein bester Freund geworden, wenngleich ich auch meine Gleichgewichtsstörungen behalten habe. Damit kann ich aber umgehen.
Frau C.: Ich bin seit 1975 MS-krank. 1965 habe ich geheiratet. Meine Ehe war immer mit Erniedrigungen verbunden. Habe meinem Ehemann nie etwas recht machen können. Er ist leider Egoist und Choleriker. Bei der kleinsten und geringsten Kleinigkeit schrie er.
1973 bis 1975 bauten wir ein Haus; da mußte ich noch viel helfen und in die Arbeit gehen. Im September 1975 hatte ich dann einen Sehnerventzündung mit einer Sehfähigkeit von nur noch 10 %. Ich hatte in den darauf folgenden Jahren einen Schub nach dem anderen und bin oft vom Fahrrad gefallen.
1988 konnte ich nicht mehr und habe meine Scheidung eingereicht. Auch hinterher habe ich noch vieles mit meinem früheren Mann erlebt. Er wollte sogar mich und meinen Sohn erschießen.
Daran kann man sehen, daß wirklich vieles von der Seele kommt. Denn jetzt habe ich eine Auferstehung erlebt. Ich weiß mit meinem Leben sehr viel anzufangen. Die Krankheit half mir, die Augen zu öffnen. Ich sagte schon immer: entweder ich bleibe bei dem Mann und komme in den Rollstuhl oder ich gehe (was ich Gott sei Dank getan habe) und werde wieder gesund.
Jetzt bin ich alle Tage ein glücklicher und zufriedener Mensch. Ich habe nach dem, was hinter mir liegt, keinen Schub mehr gehabt. Ich weiß jetzt, die Krankheit anzunehmen und auch die Menschen. Ich danke auch Gott, der mich täglich begleitet und leitet.
Meine Erkenntnis ist, daß man sich nicht stressen soll, bis es nicht mehr geht. Dann fehlen die Abwehrkräfte und dann ist man anfällig, der eine für MS, der andere für Krebs oder Diabetes, je nach Veranlagung. Auch jede Sorge, Angst und Streit verkraftet die Seele nicht. Aber ein ausgeglichenes Seelenleben gibt Kraft und Freude.
Frau D.: Ich habe MS seit etwa 1986, festgestellt wurde es Ende 1987.
Mit meinem Arzt habe ich wöchentliche Gespräche, die mir sehr gut tun. Ich verfalle sehr schnell in Depressionen, weil ich mit der MS einfach nicht fertig werde. Ich kann mich nicht damit abfinden, daß ich MS habe. Die Angst vor der Zukunft ist viel zu groß.
Seit zwei Jahren bin ich glücklich verheiratet. Mein Mann und ich kennen uns schon über 10 Jahre. Ich habe einen sehr lieben und verständnisvollen Mann. Er arbeitet in einer anderen Stadt und ist von ca. 6 Uhr bis ca. 19 Uhr aus dem Haus. Dadurch bin ich viel alleine und habe genügend Zeit zum Grübeln. Seit 1990 bin ich erwerbsunfähig und bekomme eine monatliche Rente.
Meine Familie zeigt kein Verständnis. Mein Vater zeigt überhaupt kein Interesse und fragt mal, wie es mir geht. Am Anfang von meiner Krankheit wollte ich ihm etwas über MS zu lesen geben, damit auch er mit der Krankheit umzugehen versteht, aber er sagte nur, daß er darüber Bescheid wüßte. Das war alles, und es wurde nie wieder darüber gesprochen.
Leider ist meine Mutter vor 13 Jahren durch einen Unfall gestorben. Sie war für mich das Liebste auf der Welt. Das Verhältnis zu meinem Vater hat sich auch nach dem Tod meiner Mutter nie gebessert, obwohl ich gerade seit diesem Zeitpunkt gehofft hatte, daß man sich gegenseitig doch mehr braucht. Ich hätte ihn gebraucht. Er hätte vielleicht auch jemanden gebraucht. Nur allzu oft habe ich das Gespräch mit ihm gesucht. Aber er schaut lieber in die "Glotze", als sich mal offen mit mir oder auch jemand anderem zu unterhalten.
Mein Vater ist sehr streng gewesen. Dadurch war meine Kindheit auch nicht leicht. Mein älterer Bruder ist mit gut 30 Jahren an Krebs gestorben. Darüber bin ich immer noch sehr, sehr traurig. Mit ihm bin ich durch "dick und dünn" gegangen. Obwohl er mich in meiner Kindheit mißbraucht hat, war er mir der Liebste von meinen Geschwistern. Ich war 10 Jahre, er war 20 Jahre, als es geschah.
Ich habe auch bis zu meinem 18. Lebensjahr ins Bett genäßt und wurde deswegen mit Strenge und Drohungen bestraft (vom Vater). Ich denke auch oft, ob dieses vielleicht alles der Auslöser für die MS gewesen sein könnte. Aber alles Grübeln ändert ja nichts an der Tatsache, daß ich MS habe.
Frau E.: Ich bin ziemlich stark von der MS betroffen und glaube, daß die Psyche bei dieser Erkrankung, neben anderen Faktoren, die größte Rolle spielt.
Erst seit etwas mehr als einem Jahr weiß ich definitiv, daß ich MS habe. Der Verdacht war allerdings schon fünf Jahre früher vorhanden, doch ich habe meine Beschwerden meistens für psychosomatisch gehalten, zumal mir ein Neurologe vor einigen Jahren nach flüchtiger Untersuchung sagte, mein Verdacht sei unbegründet. Vermutlich habe ich diese Krankheit schon seit mehr als 18 Jahren. Es deutet viel darauf hin, daß die ersten Symptome während meiner Schwangerschaft auftragen. Damals stand ich unter starker psychischer Belastung, da ich gegen den Willen meiner Mutter geheiratet hatte und sie den Kontakt zu mir gänzlich abbrach, als ich schwanger wurde. Dies ist nur ein Beispiel von vielen.
In Situationen extremer psychischer Belastungen machten sich bei mir immer Symptome bemerkbar, die ich heute eindeutig als Schübe definieren kann. Früher hatte ich in den Zeiten, in denen es mir seelisch gut ging, auch keine Beschwerden, doch damit ist es jetzt aus. Ich könnte nicht behaupten, daß jetzt, nach einer psychischen Aufarbeitung meiner Kindheit, die Symptome weniger auftreten. Psychisch geht es mir besser als je zuvor, trotz der Krankheit, doch diese verschlechtert sich.
Herr F.: In welchen Situationen befand/befinde ich mich zur Zeit meiner Schübe? Wer hat mich geprägt, wie haben diese Personen auf mich gewirkt?
Fragen, die ich zur Klärung der Psychosomatik der MS für unablässig halte, vor allem auch, da ich noch nicht einmal sicher bin, MS zu haben und u.U. diese Krankheit nur als Vehikel gebrauche, meinen Mitmenschen meine Schwächen, mein Leid klarzumachen.
Psychische Ursachen umschließen nicht nur einen Mangel an irgendetwas, sondern auch die Möglichkeit, mit Hilfe einer Krankheit etwas zu erhalten. Wie steht das nun mit MS und mir? MS, glaube und spekuliere ich, gäbe mir die Möglichkeit, unter meinesgleichen - nämlich MS-Kranken - zu sein, wie ich bin. Mit Stärken und mit Schwächen - vor allem einer besonderen, der MS.
Ich selbst bin Perfekionist, will immer der Beste oder etwas besonderes sein. Eine solche Grundeinstellung verhindert jedoch, Schwäche zuzugeben. Schwäche, die immer und überall vorhanden ist - man muß sie nur erkennen und es wagen, unter "seinesgleichen" eigene Schwächen zuzugestehen. Wer das nicht kann - wie ich bisher - muß andere Möglichkeiten finden. Bei mir wäre dies, hätte ich MS, der Fall. MS als die große Schwäche mit "meinesgleichen".
Doch die Angst bleibt, die Angst vor der Bewegungslosigkeit und dem Alleingelassenwerden. Der Witz dabei ist: Je bewegungsloser ich bin, desto weniger kann ich mich darum kümmern, nicht alleine gelassen zu werden.
Womit ich beim nächsten Punkt wäre: Wer soll mir (als Sohn) in unserer Form der Gesellschaft zeigen, wie es so läuft in der Welt? Der Vater. Und der ist bei mir ein denkbar schwieriger. Nicht so sehr, was seine Umgangsformen angeht, da ist er mehr als umgänglich. Nein, sein (und mein) Problem ist, daß er andere nicht mit sich und seinen Problemen, die sich gewöhnlicherweise in Wut, Trauer o.ä. äußern, belasten will. Er zieht es vor, Beleidigungen zu schlucken und "Ja" statt eines angebrachteren "Nein" zu sagen - alles um des lieben Friedens willen. Ich sage nicht, daß mein Vater ein schlechter Vater ist. Er gibt sich Mühe und hat auch Qualitäten wie die Fähigkeit, zärtlich zu seinem Sohn gewesen zu sein.
Doch im Leben taugt nunmal nicht nur Nettigkeit und Erfüllen von Erwartungen zum Überleben, dazu gehört mehr. Dazu gehört auch, Aggressionen nach außen (und nicht nur nach innen!) zu richten und im Konflikt mit anderen (nicht gegen andere!) Lösungen zu finden.
Potenziert hat sich das Ganze durch eine überstarke Mutter, die meinen Vater oft schlecht oder sogar fertig gemacht hat - vor meinen Augen, und ohne daß sich mein Vater gewehrt hätte.
Was macht nun ein Perfektionist, wenn er keinen Mut für Wege und zum Ausprobieren hat? Er träumt, kapselt sich ab. Als Kind habe ich meine Träume in exzessivem Spiel ausgelebt, als Jugendlicher in einer Verausgabung in die Schule und nun? Erwachsene spielen nicht mehr und gehen auch nicht mehr zur Schule.
Das Kind braucht einen Namen, und "MS" wäre einer - allerdings ein schwieriger und einer mit Folgen. Die Angst ist da und sitzt tief. Auch fehlt es nicht an Symptomen einer MS. Doch will ich nicht vergessen, daß MS an sich nichts weiter als ein Symptom ist - dies ist zumindest meine teils spekulative, teils erfahrene Überzeugung. Ein Symptom, ein Ergebnis einer Lebensgeschichte und eines Teils Menschheitsgeschichte.
Was bleibt, ist die Angst vor einer beängstigenden Krankheit sowie Wut und Trauer aus vergangenen Tagen.
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Forum Psychosomatik 1. Halbjahr 2001
MS und Marathon
Laufen und Rennen ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Als Kind rannten wir Jungs quer über die Felder unserer Gemarkung, wenn der Feldschütz mit seinem Fahrrad und Hund hinter uns her war. Als Schüler war das Laufen Kompensation für mich, da ich kein Fußball spielen konnte, und deshalb immer wieder von den anderen Jungs ausgelacht wurde. Als junger Mann lief ich in verschiedenen Laufgruppen mit und fand darin Anerkennung und Bestätigung.
Mitte 30 war es dann soweit, ich wollte meinen ersten Marathon laufen. Doch es sollte nicht sein. Im Abschlußtraining knickte ich um und verstauchte mir den Knöchel. Nach längerer Pause schloss ich mich dann meiner alten Laufgruppe wieder an und war total überrascht, daß meine Knie anfingen zu schmerzen, so daß ich den Lauf abbrechen mußte. (Ein bekannter Sportarzt diagnostizierte mir Arthrose und sah mich schon im Rollstuhl sitzen, wenn ich seine Behandlung nicht akzeptieren würde.) Das Laufen verlor seinen Reiz für mich, doch ganz aufgeben konnte ich es nie.
Mit 44 Jahren schien dann alles vorbei zu sein - Diagnose MS. Mit Sehstörungen fing sie an, ging weiter zu Gleichgewichtsstörungen, sie ließ mich an meinem Speichel verschlucken und raubte mir zu guter letzt noch meinen Geschmackssinn. Hatte ich zunächst noch geglaubt, daß das alles nur vorübergehend und einer momentanen Streßbelastung zuzurechnen sei, so verlor ich jetzt meine Ruhe und Geduld und setzte mich mit meiner Hausärztin in Verbindung. Diese überwies mich umgehend an einen Neurologen zur Computertomographie. Mit dem Arztbericht in der Hand ging ich zu einem Freund, einem Arzt und bat ihn um Übersetzung und Erklärung. Er zögerte. Doch als ich ihn noch einmal eindringlich darum bat, sagte er schließlich: "Verdacht auf Multiple Sklerose!".
Am nächsten Morgen bekam ich einen Platz in der Klinik und alle möglichen Untersuchungen fingen an, einschließlich einer Rückenmarkspunktion. Es dauerte dann noch einige Tage, bis ich endlich die endgültige Diagnose MS erhielt. Der Spannungsbogen war inzwischen so groß, daß ich diese schon wieder als Erleichterung empfand - jetzt war es endlich gesagt. Ich fiel in viele schwarze Löcher, kam irgendwie wieder heraus und fiel in das nächst größere. Bilder zogen an mir vorbei, in denen ich mich selbst im Rollstuhl oder mit Krücken sah. Die Zukunft war dunkel und schwarz geworden.
Einige Wochen vor dem Schub hatte ich eine Gestalttherapie angefangen. Dies kam mit jetzt zu Gute. Die Therapeutin ermunterte mich immer wieder zum Malen - mit Wachsmalstiften dem Körper über die Hände Ausdruck zu geben. Natürlich war über lange Zeit die Krankheit Thema der Therapiestunden. Und immer wieder erschrak ich, wenn ich ein Lichtspiel sah - jetzt kommt wieder ein neuer Schub. Oder ich sah einen behinderten Menschen, in Wirklichkeit oder auf einem Bild - so wird es dir auch ergehen. Ich veränderte aber auch mein Leben. Ich vermied und vermeide Streßsituationen, sowohl in beruflicher, als auch in privater Hinsicht. Denn dieser Streß war es, der mich meines Erachtens in die MS geführt hat.
Inzwischen sind 7 Jahre vergangen und ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die keinen Schub mehr in Folge hatten, so daß ich jedes Jahr zweimal Geburtstag feiern kann - den realen Geburtstag und zu dem Zeitpunkt, an dem ich wieder einmal sagen kann: Ein weiteres Jahr ohne Schub. Im Laufe der Jahre gewann ich wieder mehr Zutrauen und Vertrauen in meinen Körper. Da sich alle Symptome weitestgehend zurückgebildet hatten, fing ich wieder vorsichtig an zu laufen. Zunächst probierte ich Walken aus, um dann wieder bei langsamen Laufgruppen einzusteigen. Gleichzeitig meldete ich mich bei einer Funktionsgymnastikgruppe an, um Koordination und Muskeln zu trainieren. Der gezielte, langsame Muskelaufbau kam auch meinen Knien zu gute, die Knieprobleme kamen nicht mehr. Wichtig war aber auch, daß ich mich in der Gruppe wohl und geborgen fühlte.
Inzwischen hatten Freunde angefangen, für die Marathondistanz zu trainieren und bald auch ihre ersten Läufe erfolgreich hinter sich gebracht. Zunächst war mir dieser Gedanke noch ganz fremd und ich begnügte mich mit den Läufen innerhalb der Gruppe. Doch er kam immer öfter und setzte sich bald bei mir fest. "Nein, das darfst du nicht, das kannst du nicht. Riskiere nicht deine Gesundheit!" Die innere Stimme war deutlich. Auch Außenstehende äußerten sich in der Sprache meiner inneren Stimme.
Es gab aber auch einige Personen und Ärzte, die in einem Marathonlauf keine unbedingte Gefahr oder Auslöser für ein Voranschreiten der MS sahen. Nach bestandener medizinischer Untersuchung versuchte ich, Veröffentlichungen zum Thema "Leistungssport und MS" zu finden, bleib aber zunächst erfolglos. Erst recht spät, ich war schon auf dem Trainingshöhepunkt, erhielt ich einen Artikel zum Thema "MS und Sport", doch dieser Bericht konnte mich in meinem Vorhaben nur bestätigen. Auch mein mich betreuender Neurologe hatte keine Einwände gegen einen Marathonlauf. Als ständiges Motto wurde mir jedoch nahegelegt: "Achte auf die Zeichen deines Körpers und mißachte sie/ihn nicht!"
Ein Jahr trainierte ich für das große Ziel, joggte, wenn mir/meinem Körper danach war, oder zog die Laufschuhe auch hin und wieder einmal aus, wenn mir nicht danach war. Dieses kam jedoch im Laufe dieses Jahres immer seltener vor. Ich spürte sogar noch einen weiteren positiven Effekt: Erkältungen, die ich sonst mehrmals im Verlaufe eines Jahres hatte, blieben in diesem Jahr ganz aus. Und dann war es soweit: Ich lief meinen Marathon. Und da ein Marathon vorab mit dem Kopf gelaufen wird, lief ich ihn sicher und mit dem guten Gefühl, daß mir nichts passieren wird.
Wie ich oben schon erwähnte, lernte ich immer mehr, auf meinen Körper zu hören, auf ihn zu achten. Die Ganzheitlichkeit, d.h. die Einheit von Körper, Geist und Seele ist ein wesentliches Prinzip der Gestalttherapie. Für mich bedeutete das, die hohen Ansprüche, die ich an mich stellte, verbunden mit einem hohen Anspruch an Perfektion, immer wieder zu spüren und zu überprüfen und meinen Gefühlen und Ängsten mehr Raum zu geben. Ich lernte, mich zu öffnen, wurde weicher und erlangte dadurch mehr Offenheit für und Verständnis bei meinen Freunden und bei nahestehenden Personen.
Dazu gehört aber auch, mir Zeit zu geben. Denn vieles, was ich zunächst als ganz dringend empfinde, womit ich mich unter Druck setze, mir Streß mache, erledigt sich von selbst, läßt sich nicht erzwingen. Manche Veranstaltung und Aktion, auf die ich mich schon lange gefreut habe, lasse ich ausfallen, weil es mir jetzt, heute, diese Woche zu viel ist.
Und dieser Prozeß ist nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Ich muß ihn immer wieder neu anstoßen, muß immer wieder aus Neue in mich hineinhören. Und oft ist es eine gute, richtige Entscheidung, und dann freue ich mich darüber. Es mag seltsam klingen, wenn ich sage, daß ich, wenn auch nicht immer, eine gewisse Dankbarkeit verspüre - Dankbarkeit dafür, daß mir mein Körper ein Zeichen gesetzt hat: "So kannst du nicht weitermachen. Lerne, mich zu schätzen und zu akzeptieren!" Das Leben ist mir dadurch leichter, reicher geworden.
Forum Psychosomatik 2. Halbjahr 2001: ein Leserbrief bzgl. vorherigen Artikels
Gestern las ich den Bericht des unbekannten Marathon-Läufers. Bitte geben Sie ihm weiter, daß mir seine Schilderung richtig Mut gemacht hat! Meine Diagnose weiß ich erst seit dem 1. März d.J. und als ich in Informationsbroschüren las, daß man auf Hochleistungssport nach Möglichkeit verzichten soll, brach für mich schon eine kleine Welt zusammen. Ich gehe seit 10 Jahren mit meinem Mann Bergwandern und vor zwei Jahren haben wir die 4000er für uns entdeckt. Da Gletschertouren für mich das Höchste sind, war für mich die Maßregelung bezüglich Sport wirklich grausam. Ich habe inzwischen, genauso wie der unbekannte Herr ,vor ein paar Jahren wieder mit moderatem Kraftsport angefangen. Ich bin außerdem fast beschwerdefrei, so daß ich nun wirklich wieder den Mut habe, auf mein großes Ziel: Mont Blanc (vielleicht schon nächstes Jahr) hinzutrainieren. Vielen, vielen Dank an diesen Herrn und an Sie, daß Sie diesen Erfahrungsbericht gedruckt haben!
Forum Psychosomatik 2. Halbjahr 2001
Meine Entscheidung
Ein 30jähriger MS-Betroffener schreibt im Folgenden über seinen Entscheidungsprozeß, die Interferontherapie zu beenden. Mitte der 90er Jahre wurde MS bei ihm diagnostiziert. Infererone hat er sich bis zum Frühjahr 2001 gespritzt. Diesen Bericht schrieb er im Sommer 2001. Genau wie der Autor, möchten wir als Redaktion betonen, daß dies kein Appell zum Absetzen von Medikamenten ist. Vielmehr möchten wir mit dem Abdruck dieses Erfahrungsberichts andere MS-betroffene LeserInnen dazu ermutigen, ihre eigene innere Stimme wahrzunehmen und auf sie zu hören. Wenn Sie Kontakt zu dem Autor aufnehmen wollen, dann schreiben Sie uns - wir leiten Ihre Post gerne weiter.
Für mich war das Jahr, in dem ich die Diagnose MS erhielt, das Schwerste. Ich war völlig verzweifelt. Die Bestätigung, daß die Jahre zuvor aufgetretenen Sehstörungen nicht nur eingebildet waren, tröstete mich ein wenig. Ich zweifelte an dem mir vorhergesagten eher günstigen Verlauf. Vielleicht, so dachte ich, wollten die Ärzte mich nur beruhigen.
Nach einem weiteren Schub wurde mit Betaferon angeboten. Begeistert griff ich zu. Ich hatte natürlich schon zuvor von diesem angeblich revolutionären Medikament gehört. Ich wußte auch, daß es sich bei Betaferon nicht um ein Heilmittel handelt, aber die Chance, meine Krankheit zumindest teilweise aufzuhalten, gab mir sehr viel Kraft und Hoffnung.
Einige Jahre und Schübe später wechselte ich zur hohen Dosis Rebif. Ich war aber mittlerweile von der Wirksamkeit der Interferontherapie nicht mehr vollständig überzeugt und nahm zusätzlich Enzyme und homöopathische Mittel. Ich fragte mich, ob mein guter Gesundheitszustand wirklich das Ergebnis der Interferontherapie war, oder ob es mir nicht ohne das Medikament und die damit verbundenen Injektionen und Abhängigkeiten genauso gut gehen würde. Meine Angst vor dem Absetzen des Medikamentes war groß, denn erstens ging es mir - wie gesagt - vergleichsweise gut und Nebenwirkungen hatte ich nahezu nicht gehabt. Zweitens mußte ich laut schulmedizinischer Meinung mit dem sofortigen Verlust der Wirkung des Medikamentes rechnen, währenddessen der Neuaufbau des Schutzes angeblich 6 Monate dauern sollte.
Als selbst von Schulmedizinern die Wirksamkeit der Interferontherapie für mich bezweifelt wurde, begann bei mir ein tiefer gehender Denkprozeß. Zuerst wollte ich "mein Medikament" nicht aufgeben, dann überlegte ich, zu Cop zu wechseln und schließlich fragte ich mich, ob derzeit überhaupt ein Medikament sinnvoll war. Die mit dem Injizieren eines Medikamentes verbundenen Abhängigkeiten, wie z. B. die Einhaltung von Zeitpunkt und Ort der Injektion, dem rechtzeitigen Bestellen des Medikamentes einschließlich "Injektionszubehör" und Sicherstellung der Kühlkette besonders im Urlaub, war mir zur Gewohnheit geworden, die ich als unangenehm, aber unvermeidlich empfunden hatte. Es war mir lächerlich erschienen, diese Umstände überhaupt zu beklagen. Jetzt stellte ich fest, daß es erlaubt ist, zu klagen. Es wurde mir bewußt, daß ich durch das Medikament sehr eingeschränkt und belastet war. Umso mehr ich nachdachte, desto stärker wurde mein Wunsch nach Unabhängigkeit.
Rein rational erschien es mir logisch, das anscheinend unwirksame Interferon abzusetzen und mich nicht mit dem Wechsel zu Cop in eine neue Abhängigkeit von einem anderen Medikament mit ebenfalls ungewisser Wirksamkeit zu begeben. Emotional war ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und der Angst vor möglichen Konsequenzen eines Ausstiegs aus der schulmedizinischen Therapie, nämlich der Verschlechterung meines Gesundheitszustandes. Ich versuchte - im Grunde wieder rational - mir meinen Krankheitsverlauf vor Augen zu führen. Hatte sich die Mühe mit dem Interferon gelohnt?
Bereits seit einem Jahr vor Beginn der Interferontherapie ist mein medizinischer Befund relativ gleich bleibend. Während der Therapie blieb die Schubfrequenz zunächst konstant, erhöhte sich aber später. Meine körperlichen Einschränkungen sind nach wie vor vergleichsweise gering, obwohl unterschiedliche Krankheitssymptome hinzugekommen sind. Eine zwingende Entscheidungshilfe ergab sich daraus für mich nicht, einzig den erneuten Hinweis darauf, daß offenbar andere Einflüsse meinen Zustand zumindest mitbestimmen. Eigentlich wußte ich schon lange, daß mein psychisches Befinden enormen Einfluß auf meinen physischen Zustand hat. Fast alle meine Schübe sind in sehr engem zeitlichen Zusammenhang mit starker psychischer Belastung aufgetreten, wie beispielsweise Tod naher Angehöriger oder Streß im Beruf. In für mich glücklichen unbelasteten Zeiten habe ich Schübe nicht gehabt und krankheitsbedingte Mißempfindungen sind nicht oder nur in geringem Ausmaß aufgetreten.
Trotz dieser Erkenntnis habe ich noch monatelang mir mir, vor allem mit meiner Angst gerungen. Meine Entschlüsse haben sich dabei öfters - teilweise stündlich - umgekehrt. Sehr wichtig war für mich in dieser Zeit die Möglichkeit, unbefangen in meiner lebensbegleitenden Beratung über meine Gedanken und Gefühle zu reden. Die Entscheidung mußte ich allerdings allein treffen.
Ich habe mich dazu entschlossen, das Interferon abzusetzen und zumindest vorerst nicht zu einem anderen Medikament zu wechseln. Nachdem ich mich entschieden hatte, fühlte ich mich erleichtert. Mein Arzt hat meine Entscheidung ablehnend hingenommen. Mir ist in diesem Zusammenhang erstmals deutlich aufgefallen, daß der Wunsch, ein wirksames Medikament bei mir anzuwenden, bei ihm auch sehr groß war. Die Schulmedizin wird von den meisten Ärzten offenbar als die einzig mögliche Behandlungsform angesehen, obwohl sie aus meiner Sicht der Beweis der Rechtmäßigkeit ihres Alleinvertretungsanspruches schuldig bleibt. Folglich war die ablehnende Reaktion vorhersehbar. Mich gegen den mahnenden ärztlichen Rat durchzusetzen, war trotzdem eine schwere Probe.
Die angefangene Schachtels des Medikamentes habe ich noch aufgebraucht, wohl als "Galgenfrist". Als ich den Tag, an dem ich normalerweise eine neue Schachtel bei der Apotheke hätte bestellen müssen, "ungenutzt" verstreichen ließ, hatte ich das Gefühl, daß meine Entscheidung nicht mehr ohne weiteres umkehrbar war. Das rief bei mir letztmalig eine Verunsicherung, sozusagen "Torschlußpanik" hervor. Meine Entscheidung stand aber trotzdem fest. Das eigentliche Absetzen, sprich Weglassen der Injektion, ist mir dagegen sehr schwer gefallen.
Einige Wochen später bin ich verreist. Die Reise ist mir sehr gut bekommen. Das Interferon habe ich nicht vermißt. Es ist mir physisch und psychisch lange nicht so gut gegangen. Meine (gesunde) Partnerin fragte mich ironisch anlässlich eines längeren Fußmarsches, bei dem sie Mühe hatte, mit mir mitzuhalten, ob ich mir sicher wäre, krank zu sein, oder ob ich ihr nicht bisher etwas vorgetäuscht hätte. Natürlich bin ich ihretwegen dann etwas langsamer gelaufen. Schließlich muß man auch auf Gesunde Rücksicht nehmen! Im Nachhinein überrascht mich mein eigener Mut zu dieser Reise, die doch mit einigen unvermeidbaren Belastungen verbunden war, aber der Reiz eines Urlaubes ohne ständige Berücksichtigung der Abhängigkeit von Medikamenten war zu groß. Ich habe nichts zu bereuen.
Heute geht es mir gut. Ich bin mir sicher, das Richtige getan zu haben. Erst jetzt erkenne ich, wie groß vor allem meine psychische Abhängigkeit von "meinem Medikament" gewesen ist. Manchmal erscheint mir mein früherer Glaube, ein Medikament allein könne meine Probleme lösen, direkt naiv. Physisch fühle ich mich deutlich belastbarer. Statt des befürchteten Absturzes ist eine Besserung eingetreten. Die schulmedizinischen Möglichkeiten werde ich auch in Zukunft nutzen. Eingriffe in mein Leben aber nur, wenn sie für mich absolut überzeugend und unumgänglich sind.
Mein Erfahrungsbericht ist kein Aufruf zum Medikamentenausstieg. Jeder MS-Betroffene kann und muß für sich selbst entscheiden, welche Therapie für ihn von Nutzen ist. Schießlich ist jeder Verlauf individuell.
An dieser Stelle möchte ich berichten, wie es mir mit dem Imurek ging. Als ich die MS hatte, gab es die Interferone noch nicht. Nach dem vierten Schub sagten die Ärzte, ich solle als "letzte" Chance, Imurek nehmen. Ich las den Beipackzettel, fand, er klang harmlos (ich muß das mit dem gesteigerten Krebsrisiko wohl überlesen haben) und war begeistert, daß so eine harmlose Tablette die MS stoppen sollte. Andererseits war mir später schon klar, daß es einfach nicht gesund sein kann, so massiv ins Immunsystem einzugreifen. Aber zu dem Zeitpunkt war ich auch sehr verzweifelt und hatte große Angst, wo die MS hinführen würde, wenn sie in dem Tempo weitermacht. Ich nahm Imurek von 1994 bis 1996, blieb parallel natürlich auf meinem geistig-seelischen Trip. Eines Tages wollte ich es absetzen, wenn ich den Mut dazu hätte. Anfang 1995 begann ich mit dem Qi Gong. Ende 1996 beschloss ich, das Imurek während eines Aufenthaltes in der Evers-Klinik (also wenigstens ein bißchen abgeschirmt) an Neumond (guter Tag für Neuanfänge) abzusetzen. Ich hatte auch Angst, klar, ich dachte, die jahrelang Unterdrückten würden hochschießen und sich aufbäumen. Ich hatte im Vorfeld die Dosis schon bit by bit reduziert. Außerdem hatte ich mit der Meditation "Ort der Kraft und Problembetrachtung" von Dahlke zuvor schon die Tablette betrachtet - und sie war immer wieder rot durchgestrichen. Ich setzte das Imurek ab, nichts passierte, die Leukos schossen nicht hoch, ich bekam keinen Schub. Da ich ja sowieso nicht an Medikamente als langfristige Lösung glaube, bin ich froh, das damals geschafft zu haben. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, hätte es die Interferone schon gegeben. Einzig meine Angst vor dem Spritzen hätte mich vielleicht zurückgehalten, sie anzuwenden. Es wäre ja auch wirklich schön, wenn es ein Mittel gäbe, das die Krankheit in Schach hält oder eliminiert. Andererseits ist es vielleicht für mich ein Vorteil gewesen, dass es nichts gab. Was nämlich passieren kann, wenn man ein Medikament nimmt, ist, daß man die Verantwortung vollkommen daran abgibt und einfach so weiterlebt wie zuvor und das kann für mich einfach nicht der Sinn von Krankheit im Rahmen von "Schicksal als Chance" sein.
Forum Psychosomatik Dokumentation des Symposiums am 24.10.92 in Kassel, aus dem Vortrag von Ulrich Schultz-Venrath über "Seriöse und unseriöse psychosomatische Aspekte bei der MS"
.... Hier schließen sich psychogenetische Überlegungen zur Entwicklung einer MS an, die sich aus psychoanalytisch orientierten Psychotherapien oder aus Anamesen ergeben haben, jedoch allenfalls als Hypothesen angesehen werden dürfen: Für einen großen Teil der MS-Patienten scheinen nicht wenige Beobachtungen dafür zu sprechen, daß es sich bei der MS - neurodynamisch und psychodynamisch gesehen - um eine frühe Störung handelt, die auf der Ebene einer mißlungenen Separation und/oder Individuationsentwicklung anzusehen ist (Kütemeyer und Schultz 1990). Diese Hypothese möchte ich mit folgenden Beobachtungen stützen:
Wenn man als einen Parameter für eine gelungene Individuation die Entwicklung eines befriedigenden Sexuallebens ansieht, so ergibt die Auswertung sehr verschiedener Studien (Grinker 1950, Bolding 1960), daß in der Mehrzahl der Patienten bereits vor Erstmanifestation eine psychosexuelle Störung vorliegt; z. B. wird nicht selten der erste sexuelle Partner geheiratet.
Trennungen aller Art (Scheidung, Tod eines nahen Angehörigen, Geburt eines Kindes, Verlust eines Arbeitsplatzes oder auch nur die Androhung einer Kündigung, oder aber eine Hochzeit, die die Trennung von den Eltern bedeuten könnte) finden sich häufig unter den besonderen Auslösern einer MS, wobei die Erkrankung selbst ein Hinweis darauf ist, daß eine Trennung nicht zugelassen werden kann. Das extremste, aber deshalb auch plastischste, Beispiel einer mißlungenen bzw. verweigerten Trennung erlebte ich kürzlich, als mir eine 50jährige MS-Patientin vom Selbstmord ihres einzigen, damals 21jährigen, Sohnes berichtete.
Er hatte kurz zuvor eine Roma-Frau geheiratet, die die Patientin als Hure, Schlampe und Flittchen bezeichnete. Da ihr Sohn trotz ihrer Beschimpfungen an seiner (ersten) Frau festhielt, hatte die Patientin mit beiden die Beziehung abgebrochen. Als es zu einer ersten Ehekrise gekommen sei, habe ich ihr Sohn umgebracht. Diese an und für sich allein schon schreckliche Geschichte erfuhr eine dramatische Entwicklung, als die Patientin wenige Tage nach der Beerdigung an der Grabstelle das Gefühl zu verspüren meint, daß ihr Sohn dort nicht mehr liege, was sich nach Überprüfung des Grabes bestätigte.
Nach einjähriger Recherche findet sie heraus, daß ihre ehemalige Schwiegertochter die Urne ausgegraben und in ihrem Heimatdorf, 3000 km vom ehemaligen Grab entfernt, begraben hat lassen. Die Patientin fährt mir ihrem Mann dorthin, gräbt dort heimlich die Urne aus und kehrt mit dieser nach Deutschland zurück. Kurz darauf erkrankt sie an einem ersten MS-Schub, zusätzlich ergibt sich nun das Problem, daß sie die Urne nicht erneut bestatten kann, weil ein Mensch nicht in zwei Gräbern liegen darf. Sie entschließt sich, die Urne an einem geheimen Ort zu verstecken und erzählt mir unter Tränen, daß ihr Sohn erst begraben werden könne, wenn sie oder ihr Mann sterbe.
Analytisch gesehen handelt es sich hier um einen Verlust, der nicht betrauert werden kann, was zur Formierung eines Introjekts führt, was nicht verlassen werden kann. Es handelt sich um das Paradox, daß das Tote dadurch bewahrt wird, daß es nicht assimiliert wird, und daß es lebendig ist, indem es tot bleibt.
MS-Patienten schildern aus ihrer Kindheit, daß sie die exzessive und restriktive Bindung an die Mutter oder Ersatzmutter, die emotional nicht selten unerreichbar war (Grinker 1950), unabdingbar für ihre emotionale Homöostase und Sicherheit gehalten haben; von einer eventuellen größeren Unabhängigkeit der Geschwister sind sie eher überrascht. So äußerte sich eine 40jährige Patientin: "Es scheint, als sei meine Mutter und ich diesselbe Person - wenn sie irgendetwas fühlt, so fühle ich es auch" (Paulley und Pelser 1992).
Mir fällt an dieser Stelle ein, daß ich zwar von einem Konflikt mit dem Vater wußte, mir aber eine starke Bindung an die Mutter nicht bewußt war. Als ich mit Erhard Freitag telefonierte (Hynosetherapie), fragte ich ihn nämlich, ob ihm im Verlaufe der Jahre bei MS-Patienten eine Gemeinsamkeit aufgefallen wäre. Er sagte mir, es wären starke Mutterbindungen da. Die andere Sache, die mir vor Jahren gesagt wurde von einem Psychologen, ist, daß ihm aufgefallen wäre, daß MS-Patienten oftmals keine richtige Rückenstärkung vom Elternhaus hätten. Spontan habe ich das gleich mal bestritten, aber nach genauerem Hinsehen, bin ich mir da gar nicht mehr so sicher... Was mir schon auffiel und auffällt bei vielen Patienten ist, daß sie oft zwar schon verheiratet sind, und Kinder haben, aber immer noch im Elternhaus wohnen. Oft kommt es mir auch vor, als wäre der Betroffene gar keine eigene Persönlichkeit, sondern nur das "Anhängsel" vom Partner/in. In einem Buch, das gar nichts mit dieser Richtung zu tun hatte, las ich den Satz "Chronisch Kranke sind nicht richtig erwachsen geworden". Das spräche auch für die Theorie, daß man die Verantwortung an Eltern und/oder Partner/in abgibt. Alles mal nur Gedankengänge...
Nach Auffassung der meisten psychosomatischen Autoren zeigten MS-Patienten in der Kindheit keine aggressiven Gefühle, vermieden Auseinandersetzungen und verhielten sich im höchsten Grade konformistisch, worauf sie stolz seien. Insofern sei die Kindheit von MS-Patienten besonders komplikationslos, Alpträume, Eßstörungen, Enuresis, verbale oder körperliche Auseinandersetzungen kämen nicht vor, so daß eine Ablösung nicht stattfindet.
Neben dem magischen Denken finden sich weitere unreife Abwehrmechanismen, wie die der Spaltung, der projektiven Identifizierung und der Verleugnung. Die Verleugnung könnte erklären, warum in einer Sammelstatistik verschiedener psychopathologischer Arbeiten von 1926 bis 1980, die 2848 MS-Patienten umfassen, nach klinischem Eindruck 56 % aller Patienten unauffällig waren. Dies entspricht den Beobachtungen, daß MS-Patienten, die plötzlich eine Visusstörung erleiden oder nicht mehr laufen oder urinieren können, während der Anamese oder neurologischen Untersuchung freundlich lächeln oder emotional unbeteiligt wirken können und nicht selten der Arzt der Erschrockenere von beiden ist.
In Psychotherapien verschiedenster Art wird diese angepaßte imitative konfliktfreie Haltung reinszeniert: Ein 28jähriger portugiesischer Patient mit schubförmigem progredient-chronischen MS-Verlauf, der wegen einer Rumpf- und Extremitäten-Ataxie als Bauzeichner kurz vor der Berentung steht, erhält Musiktherapie. Die Musiktherapeutin vermerkt in ihrem psychodiagnostischen Bericht, daß "die von ihm bevorzugte musikalische Form ... die Imitation" ist. Er folge "dabei auch in komplexere rhythmische Abläufe, zeige aber kein einziges Mal eigene Initiative oder entwickele einen neue Idee. Es scheint auch, als erlaube er sich keine stärkeren motionalen Erlebnisse (bei Steigerungen bricht er ab oder schwingt nicht mit; bei dramatischer Musik zieht er sich zurück)."
Vielleicht haben Sie durch meine Ausführungen eine Ahnung davon bekommen, daß eine Störung auf der Individuations- und Separationsebene auch Ärzte und Therapeuten dazu verführen kann, sich mit der asexuellen frühkindlichen und auch magischen Ebene zu identifizieren. Dies geschieht z. B., wenn Ärzte ihren MS-Patientinnen raten, keine Kinder zu bekommen oder sich sterilisieren zu lassen, weil dies zu gefährlich für sie sein könnte. Hier wird Patienten auf ärztliche Weise eine Nicht-Individuation empfohlen, auch wenn der geäußerte Kinderwunsch vor dem Hintergrund einer fehlenden Separation berechtigte Befürchtungen für die Entwicklung des Kindes einer solchen Mutter auslösen kann.
Eine andere Abwehrform unter Ärzten ist die Fehldiagnose, etwa wenn bizarre Beschwerden, die von MS-Patienten zu Beginn oder im Verlauf ihrer Erkrankung angegeben werden, als Hysterie oder Konversion fehlgedeutet werden.
Völlig unerforscht blieb die gutartigste Form einer Erkrankung, die wohl am besten mit MS-Phobie oder - Hypochondrie zu bezeichnen ist und die in der Regel der Abwehr sexueller oder anderer Beziehungskonflikte dient. In unserer Ambulanz betrifft dies immerhin 15 % der Patienten, die zunächst unter der Diagnose einer MS zu uns kommen. Nicht selten dient in diesen Fällen die Überzeugung, eine MS zu haben, die nach einer Lumbalfunktion häufig mit einer Verschlechterung der Beschwerden reagieren, einer innerfamiliären Stabilisierung mit dem sekundärem Krankheitsgewinn einer Schonung des Betroffenen vor einer Auseinandersetzung mit peinlichen Konflikten. Die Psychotherapie solcher Patienten einschließlich ihrer Angehörigen ist ebenso schwierig wie die einer AIDS-Hypochondrie und bedarf einer psychoanalytischen Ausbildung.
Am meisten Artikel gibt die Ausgabe vom 1. Halbjahr 2000 her, da darin eine Auswahl wichtiger Artikel aus 15 Ausgaben Forum Psychosomatik steht.
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Ein MS-Patient über sich, Erstveröffentlichung im Sommer 1992
Die somatisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien über die MS sind mir bekannt. Hier möchte ich einen ganz anderen Aspekt herausstellen, der für mich individuell immer mehr Bedeutung bekommen hat, je länger ich mich mit meinem MS-krank-Sein auseinandergesetzt habe. Bei diesem Aspekt geht es um die Bedeutung und den Sinn meiner Erkrankung für mich und mein Leben: Ich bin knallhart auf Dinge hingewiesen worden, die ich erst jetzt bereit bin, anzunehmen und überhaupt zu sehen. Einige Beispiele: Das Konzept meines Lebens war früher: Ich will/muß was ganz Besonderes sein, der Tollste, der Beste und der Glücklichste. Was in dieses Schema nicht paßte, habe ich mehr oder weniger erfolgreich versucht auszublenden: "Eigentlich ist das Leben immer schön, und ich bin total glücklich". Mit Schwindel und zunehmenden Sehstörungen begab ich mich verzweifelt mit dem Gefühl "so geht es nicht weiter", "so kann ich allein nicht weiter" in die Psychotherapie. In diesem Prozeß konnte ich immer weniger darüber hinwegsehen, daß mein Leben/ich selbst überhaupt nicht immer schön und toll waren bzw. es sind. Es ist eben kein bißchen toll, immer schlecht zu sehen. Es ist, wie es ist. Und das ist mal nicht leicht und mal Schatten und mal niederschmetternd. Eine im allgemeinen als schweres und dramatisches Schicksal betrachtete Erkrankung wie die MS, hilft einen wirklich, etwas Besonderes zu sein. Ich wurde mühelos zum vom Schicksal geschlagenen Helden, der trotz alledem sein Schicksal meistert. Ich war wirklich oft gerührt von mir selber. Und was hatte ich vorher gekämpft, um ein toller Kerl zu sein! Im Rollstuhl braucht man nicht mehr viel zu tun, ist meine Vorstellung. Meine Erkrankung kann mich in den Rollstuhl bringen. Oft habe ich ein mir unheimliches Gefühl der Erleichterung bei diesem Gedanken empfunden. Diese Erleichterung bedeutet Entlastung vom Kampf, davon, permanent toll, immer glücklich usw. zu sein.
Diese intuitive Suche nach dem Sinn meiner Erkrankung gibt mir die Chance zu erkennen, wo ich stehe, wer ich bin und sie gibt mir die Chance, andere Wege zu gehen als vorher. Manchmal kommt mir das sehr einfach und klar vor, manchmal fühle ich mich ungerecht und sinnlos vom MS-Symptom betroffen. Im Moment empfinde ich, in meiner eigenen Entwicklung folgerichtig an den Punkt geführt worden zu sein, an dem ich jetzt bin: immer ganzer, immer echter, immer wirklicher und ehrlicher, d.h. freier von Ansprüchen, daß etwas sein soll, was nicht ist und stattdessen eher bereit, das zu sehen,was ist. Und meine Krankheit hat erheblich zu dieser Entwicklung beigetragen.
Es gibt keine kausale Therapie der MS. Ich habe aber die sehr konkrete Hoffnung, daß meine Beschäftigung mit Sinn und Bedeutung von Symptomen den Verlauf mildern könnte, d.h., daß ich vielleicht Symptome überflüssig machen kann, indem ich z. B. ehrlich hingucke ohne den Umweg über ein Symptom, das mir zeigt, wie es wirklich ist.
Psychosomatische Behandlungsmethoden von Reinhard Plassmann, Erstveröffentlichung 1995
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Krankheit als Sprache
Der Ausgangspunkt dieses Krankheitsverständnisses ist die Erkenntnis, daß Krankheiten Chiffren sein können, in denen sich Unbewußtes ausdrückt. Krankheiten werden damit zum Gegenstand einer hermeneutischen Betrachtungsweise, welche den Sinn des Krankseins durch geeignete Methoden wieder verständlich macht. Damit entsteht die Notwendigkeit einer psychologischen Medizin und im Bereich der Metapsychologie das Bedürfnis nach einer "Grammatik", welche die Entstehung und Bedeutung dieser Krankheiten, als Chiffren verstanden, erklärt.
Während sich die Theorien hiermit noch schwer tun, sind wir es im allgemeinen Sprachverständnis selbstverständlich gewohnt, unsere innere Befindlichkeit in körperlicher Repräsentatnz auszudrücken. Man ist hartnäckig, man hat an etwas zu schlucken, man könnte die Hände ringen, man hält den Atem an, etwas geht zu Herzen, an die Nieren, man bekommt kalte Füße, man fiebert etwas entgegen. Wie sieht nun eine wissenschaftliche Grammatik, eine Dechiffrierung des Zeichens Krankheit aus? Es würde im Rahmen dieser Einführung zu weit gehen, alle Konzepte analytischer Psychosomatik hierzu ausführlich zu referieren. Es mag praktikabler sein, einige Grundprinzipien herauszuarbeiten und mit ihren Beschreibern zu verbinden.
Ungeteilte Übereinstimmung besteht dahingehend, daß es unbewußte Phantasien und Affekte seien, die auf dem Wege der Somatisierung das körperliche Geschehen in krankmachender Weise beeinflussen können. Dies ist das hermeneutische Prinzip der Psychosomatik. Das krankhafte körperliche Geschehen kann, weil es Unbewußtes zum Ausdruck bringt und durch Unbewußtes beeinflußt wird, nicht einfach durch Nachfragen, durch Exploration des Patienten verstanden werden. Was für andere Ausdrucksweisen des Unbewußten wie beispielsweise Träume oder freie Assoziationen gilt, trifft auch für psychosomatische Krankheiten zu; deren Bedeutung ist dem Kranken nicht oder nur zum Teil bewußt. Dieses hermeneutische Prinzip in der Psychosomatik wurde von niemand konsequenter vertreten als von Georg Groddeck, der den Körper wie ein beliebig formbares, plastisches Material ansah, in welchem sich das Unbewußte in völliger Freiheit ausdrückte. Es war für ihn selbstverständlich, daß schwerwiegende körperliche Erkrankungen wie Lungenblutungen, Unterleibsblutungen, auch Krebserkrankungen als Ausdrucksgeschehen verstanden und behandelt werden können.
Zweites Grundprinzip bei der Auffassung von Krankheit als Sprache ist das entwicklungspsychologische Prinzip. Denkt man sich die Entwicklung des menschlichen Fühlens und Denkens als Abfolge einer Reihe von definierten Entwicklungsschritten, so kommen körperlich überwiegend solche Phantasien zum Ausdruck, die frühen Entwicklungsphasen entstammen. Der Rückgriff auf den Körper als Ort des Ausdrucks wird gleichsam als Rückkehr in eine archaischere, ursprünglichere, primitivere und entwicklungspsychologisch frühere Sprachform verstanden. Max Schur spricht von Desomatisierung und Resomatisierung. Desomatisierung ist die Überwindung des ausschließlich körpergebundenen Ausdrucks, an dessen Stelle psychische Representanzen treten. Im Vorgang der Resomatisierung geht diese Fähigkeit verloren. Der gleiche Gedanke ist auch im Konzept der zweiphasigen Verdrängung von Mitscherlich enthalten.
Grund für diesen Rückgriff auf den Körper als Ausdrucksorgan ist jeweils ein unlösbares Problem, ein unterträglicher Konflikt, ein nicht verarbeitbarer Objektverlust, was zu einer Stimmung der Hilf- und Hoffnungslosigkeit führen kann, wie Engel und Schmale dies ausdrücken. Im Rückgriff auf den Körper liegt dabei nicht nur ein Ausdrucksversuch, sondern bereits können wir bei der Besprechung des Paradigma von Krankheit als Lösungsversuch näher eingehen.
Krankheit als Lösung
Bei der Besprechung von Krankheit als Funktionsstörung wurde schon gesagt, daß die Auffassung von Krankheit als Lösung letztlich ein Erbe der hippokratischen Medizin ist, welches allerdings unter dem Einfluß des kartesianischen mechanistischen Denkens fast wieder verlorengegangen wäre. Nach der hippokratischen Auffassung war die Physis, d.h. die Naturkraft im Menschen, Urheber eines Abwehrkampfes gegen ein Säfteungleichgewicht im Organismus. Das Fieber, der Durchfall, das Schwitzen etc. waren nicht die Krankheit selbst, sondern Selbstheilungsversuche, mit denen der Organismus sich zu helfen versuchte, indem er Schadstoffe ausstieß.
Im psychoanalytischen Verständnis von Krankheit taucht dieser Ansatz, Krankheit als Lösungsversuch zu verstehen, wieder auf. Unbewußtes, welches nicht seelisch ertragen werden kann, wird zu einem körperlichen Symptom, es wird somatisiert. Die Abwehr unerträglicher Gefühle und Phantasien durch Somatisierung hat Lösungscharakter. Ein Wutaffekt beispielsweise, der nicht als bewußtes Wutgefühl erscheint, sondern als Zahnschmerz, muß seelisch nicht ertragen und nicht bewältigt und auch nicht verantwortet werden, und es ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten, das angeblich körperliche Problem auch im Körper zu lösen, im Falle Zahnschmerzen beispielsweise durch Zahnbehandlung oder Zahnentfernung.
Über den Abwehraspekt hinaus bietet die Entstehung eines körperlichen Symptoms vielfältige Wunscherfüllungsmöglichkeiten und es hat auch insofern Lösungscharakter, indem es Befriedigungsmöglichkeiten bietet. Diese Befriedigungsmöglichkeiten können direkt am Körper liegen, die Befriedigungsmöglichkeiten können sich aber auch aus sozialen Interaktionen im Gesundheitswesen oder in der Familie ergeben. Im psychoanalytischen Sprachgebrauch werden diese Möglichkeiten, Krankheit als Lösungsweg zu nutzen, auch als primärer und sekundärer Krankheitsgewinn bezeichnet. Primärer Krankheitsgewinn ist die innerpsychische Entlastung, die ein Individuum durch die Entwicklung eines Symptomes erfährt, sekundärer Krankheitsgewinn sind die Vorteile, die sich aus dem Erkrankungsprozeß ziehen lassen. Die gesamte Entwicklung der modernen Familienpsychosomatik beruht auf der Beobachtung, daß körperliche Erkrankungen bei einzelnen Mitgliedern der Versuch sein kann, ein aus dem Gleichgewicht geratenes Familiensystem erneut über die Erkrankung zu stabilisieren. Sehr evident ist das im Fall von Angstneurosen, die ganz regelmäßig eine brüchig gewordene Ehe wieder zusammenbinden. .....
Die tiefere Ursache der MS von Werner Sattmann-Frese, Erstveröffentlichung Sommer 1992
Die MS ist eine Krankheit, die bestimmt ist einerseits von klinischen Charakteristika wie Schwäche, Vertigo (Schwindel, rotierende Bilder), vereinzelter Taubheit, unkoordinierten Bewegungen und anderen Merkmalen, andererseits durch einen spezifischen pathologischen Verlauf, bei dem die Mylinscheiden, die die Nerven umgeben, von dem eigenen Immunsystem des Patienten angegriffen und zerstört werden. Die herkömmliche Medizin hat die Ursache der Krankheit als eine autoimmune Reaktion diagnostiziert. Dies läßt natürlich die Frage unbeantwortet: Warum sollte der menschliche Körper sein eigenes Gewebe angreifen und diese schweren Symptome hervorrufen?
Ich stelle die neueren wissenschaftlichen Ergebnisse der orthodoxen Medizin nicht in Frage: Sie sind in ihrem Rahmen korrekt. Vielmehr versuche ich, die MS als einen psychosomatischen Ausdruck unbewußter und ungelöster Konflikte zu beschreiben oder als den physischen Ausdruck des "Schattens" darzustellen (Jungsche psychologische Terminologie).
MS als Botschaft vom wahren Selbst
Die herkömmliche Medizin beschäftigt sich mit der Beschreibung von Symptomen, ihren pathologischen Strukturen und der Verabreichung von Arzneimitteln. Esoterische Medizin sieht die Krankheit als eine Schöpfung des wahren Selbst, die den Patienten auf die innere emotionale Realität aufmerksam machen will. Die MS auf eine ganzheitliche Weise zu betrachten, bedeutet, die Natur der Konflikte zu verstehen, mit denen der Patient beschäftigt ist.
Eine Krankheit bekämpfen oder eine Krankheit überflüssig machen
In der somatischen Therapie haben wir gelernt, daß die Leute meinen, man müsse gegen Krankheiten ankämpfen. Krankheiten werden als etwas Überflüssiges betrachtet, das zu beseitigen ist, anstatt sie als Ausdrucksmöglichkeiten von Qualitäten zu sehen, die im emotionalen Leben eines Menschen fehlen. Dementsprechend haben wir gelernt, unser defektes Organ oder Körperteil zu hassen, obwohl wir es auch als einen Lehrer und unseren vertrautesten Freund betrachten könnten, der tatsächlich für uns sorgt. Da dieser Freund uns die unerwünschte Wahrheit sagen könnte, daß wir nämlich Ärger oder Angst verdrängen oder daß wir bedürftig sind, leugnen wir alle Verbindungen zwischen unseren Symptomen und Gefühlen und schlucken lieber ein Medikament oder Vitamine. John Harrison beschreibt in seinem Buch "Love your disease", wie wir unbewußte Verträge mit unseren Ärzten schließen: Wir wollen, daß sie unsere Symptome beseitigen, uns aber mit unseren emotionalen Ursachen alleine lassen.
Um eine Krankheit überflüssig zu machen, muß man lernen, sich mit dem defekten Organ anzufreunden. In einem Diaglog wird es einen zu den "vergessenen" Gefühlen führen. Wenn man es wagt, diese Gefühle zu integrieren, wird die Notwendigkeit zum Kranksein verschwinden.
Der Konflikt mit der Abhängigkeit
Während der frühesten Lebensphase ist ein Kind noch emotional mit seiner Mutter verschmolzen. Es ist vollkommen abhängig von ihrer Liebe. Die Myelinscheiden, die die Nerven des Babys umgeben, sind noch nicht vollständig entwickelt. Seine Beine sind schwach und es kann seinen Schließmuskel nicht kontrollieren. Wenn das Baby älter wird, werden die Nerven voll funktionsfähig. Es entwächst der Verschmelzung und beginnt, sein eigenes Ego zu entwickeln. Es bringt sein Bedürfnis nach Trennung zum Ausdruck und möchte, daß Dinge in der eigenen Art und nach dem eigenen Rhythmus geschehen.
Unglücklicherweise können einige Mütter nicht mit der Abhängigkeit ihrer Babys umgehen. Sie fühlen sich durch die Bedürfnisse des Babys überfordert und versuchen, die Babys zur Unabhängigkeit zu drängen. Um den Schmerz darüber, daß Bedürfnisse nicht erfüllt werden, zu ertragen, "beschließt" das Kind, nie wieder bedürftig, nie wieder von anderen abhängig zu sein. Als Erwachsener wird dieser Mensch immer noch unter diesem Konflikt mit der Abhängigkeit leiden, wird aber aus gutem Grund den Schmerz jener frühen Jahre verbergen.
Der Kampf gegen Bedürftigkeit und Abhängigkeit wird viele Gesichter bekommen. Wenn Menschen viele Jahre lang ihre Bedürfnisse verdrängen und es ausschließen, unterstützt zu werden, kann der emotionale Frustrationsdruck ein Ausmaß bekommen, welches die Unversehrtheit des Lebens dieses Menschen bedroht. Dann kommt möglicherweise das wahre Selbst zum Vorschein und löst einen MS-Schub aus, beispielsweise schwache Beine. Die Tatsache, daß es nun annehmbar ist, bedürftig zu sein und umsorgt zu werden, stellt für den gestreßten Organismus eine Erleichterung dar, obwohl das Ego in Panik verfallen wird, weil das defekte Körperteil ihn oder sie daran hindern wird, den eigenen Ansprüchen an sich selbst gerecht zu werden.
Die Störung durch die MS verleiht dem Menschen auf diese Weise die emotionale Qualität, die dringend benötigt wird. Sie sorgt für einen gesicherten Raum für das Bedürfnis, abhängig zu sein. Dies ist ein deutliches Beispiel für die Spaltung der Persönlichkeit eines Menschen, die allen Krankheiten zugrundeliegt. Das Ego ist nicht in Verbindung mit den Bedürfnissen und Gefühlen des Menschen.
Ego-Entwicklung und Grenzverletzung
Später, wenn das Kind sein eigenes Ego entwickelt, wird es Trotzphasen durchleben. Wenn es seine eigenen Grenzen entwickelt, wird es manchmal seine Eltern ablehnen müssen. Es gibt Eltern, die mit dieser Ablehnung nicht umgehen können und die ihren Kindern nicht erlauben, ihre eigenen Grenzen zu ziehen. Sie verletzen die Grenzen und zwingen das Kind durch Erpressung, "ja" zu sagen, obwohl es tief in sich ein "nein" fühlt. Das Kind gerät in einen Konflikt - "Wenn ich nein sage, werden sie mich nicht lieben; wenn ich ja sage, kann ich mich selbst nicht lieben." Der Erwachsene mit MS leidet immer noch unter diesem Konflikt und er oder sie wird die Erfahrung machen, daß viele Leute seine oder ihre Grenzen verletzten. Wenn der Mensch es nicht lernt, sich selbst zu schützen, kann das wahre Selbst früher oder später etwas schaffen, was ich grenzbildende Symptome nennen würde. Der Körper, der eine taube Haut oder überspannte Bauchmuskeln hervorbringt, versucht verzweifelt, die Grenzen wiederherzustellen, wozu der Mensch sonst nicht in der Lage ist. Die Symptome dienen emotional und sozial als Schutz, aber gleichzeitig behindern sie den Patienten. Die Krankheit ist der Preis, den ein Mensch ohne Grenzen für sein Überleben zahlen muß.
MS und Lebensenergie
Einige MS-Patienten leiden unter Spastik oder Zittern der Gliedmaßen. Die unausgesprochenen Botschaften hinter diesen Symptomen scheint folgende zu sein: Ich will mich nicht für dich bewegen. Die Lebensgeschichte offenbart, daß Bewegung eher mit Forderungen und Leistungen verbunden wurde als mit Freude. Die Spastik und das Zittern sollten als gesunde Reaktionen eines Menschen betrachtet werden, der vor langer Zeit darauf verzichtet hat, sein Leben zur eigenen Freude zu leben und sich im eigenen Rhythmus zu bewegen. Einige MS-Patienten leiden an schwachen Beinen. Der Lebensbericht von Menschen mit diesem Symptom spricht dafür, daß sie glauben, sich davor schützen zu müssen, energiemäßig ausgelaugt jzu werden. Nur indem sie die Krankheit "benutzen", scheinen sie ihre Lebensenergie erhalten zu können.
Symptome sind so einzigartig wie die Individuen
Die beschriebenen Mechanismen sollten als Orientierungshilfen für das Verständnis dieser Krankheit gesehen werden. Die Symptome oder ihre Konstellation variieren stark und müssen bei jedem Patienten individuell ergründet werden.
Vor fünf Jahren, als ich für die DMSG als Körpertherapeut arbeitete, hatte ich einen jungen Mann in einer Gruppe, dessen einziges Symptom das Zusammenpressen seiner Oberschenkel war. Ein Gummikeil schützte seine Knie vor Verletzung. Diagnostiziert als MS-Patient, machte er auf mich den Eindruck, als müsse er seine Genitalien schützen. Er erzählte uns, daß seine Beine im Bett entspannt seien. Als ich seine Beine während der Sitzung mit einer Decke zudeckte, konnte er seine Oberschenkel entspannen. Dieser Mann lernte, daß er aktiv seine Oberschenkel und Genitalien schützen mußte, um die Spastik zu lösen. Eine Heilung im tieferen Sinne hätte sicherlich die Integration unterdrückter Gefühle im Zusammenhang mit einem sexuellen Übergriff beinhaltet. Ich erwähne diesen Patienten, weil er ein hervorragendes Beispiel dafür ist, wie spezifisch Symptome sein können und wie offensichtlich sie mit emotionalen Erfahrungen verknüpft sind.
Die Lebensgeschichte von MS-Patienten sind bewegend. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, hinter ihren starren Bauchmuskeln sei der einzig sichere Platz für sie zu existieren. Andere bekommen einen MS-Schub, um eine Weile einer Partnerschaft zu entfliehen, in der Liebe mit Verschmelzung und Klammern verwechselt wird. Oder da ist die Frau, die zwanghaft alles absolut korrekt macht die dann eine Spastik entwickelt. Bei ihr scheint die MS das eindrucksvolle Ende ihres zwanghaften Perfektionismus zu sein.
Die Ursache der MS
Was ist die Ursache der MS? Ist es die autoimmune Reaktion? Sicherlich nicht. Diese Reaktion ist nur Ausdruck des inneren Kampfes zwischen dem Ego und dem wahren Selbst, das für das Überleben des ganzen Organismus aktiv werden muß. Nach allem, was gesagt wurde, könnten wir natürlich Mütter für ihre Unfähigkeit verantwortlich machen, mit der Abhängigkeit ihrer Babys oder mit dem Streben ihrer Kinder nach Unabhängigkeit umzugehen. Wen würden wir aber verantwortlich machen, wenn den Müttern dasselbe widerfahren ist, als sie klein waren? Thorwald Dethlefsen, ein deutscher Psychologe und Esoteriker, behauptet, daß die einzige ernstzunehmende Ursache jeder Krankheit der Urknall ist, der unser Universum geschaffen hat. Er schreibt, daß unsere Definition einer Ursache lediglich ein willkürlicher Einschnitt in die unendliche Ursache-Wirkung-Kette ist. (Th. Dethlefsen, Krankheit als Weg) Ich stimme mit ihm darin überein, daß wir lieber lernen sollten, die Krankheit als Lehrer auf unserer Suche nach mehr Bewußtheit zu nutzen und sie überflüssig zu machen als jemanden zu suchen, den wir verantwortlich machen können.
MS als Lehrer
Was können wir von dieser Krankheit und ihrem emotionalen Hintergrund lernen? Ob man nun an MS leidet oder nicht, es lohnt sich sicherlich, darüber nachzudenken, wie man mit den eigenen Bedürfnissen und Grenzen umgeht. Haßt man es, bedürftig zu sein, oder verachtet man Leute, die ihre Bedürfnisse frei ausdrücken? Für erwachsene Menschen ist es immer noch äußerst natürlich, das Bedürfnis, geliebt und umsorgt zu werden, zu empfinden und auszudrücken.
Es ist eine Illusion zu glauben, man käme ohne andere zurecht. Jeder hat die Fähigkeit zu lieben und zu umsorgen, aber diese Eigenschaften werden unehrlich und verzerrt, wenn man sich nicht selbst erlaubt, auch Empfänger zu sein.
Ist es schwierig, die Grenzen innerhalb von Beziehungen zu setzen? Vermeidet man es, Leute zurückzuweisen oder zu verletzen? Man mag es nicht mögen, Grenzen zu setzen oder jemanden zurückzuweisen, aber es ist ein natürliches Kennzeichen des Lebens, solches zu tun. Wenn man ehrlich zu sich selbst stehen will, ist es unvermeidbar, ab und zu jemanden zu verletzen. Emotionalen und physischen Schmerz zu verursachen und zu erfahren, ist ein fester Bestandteil des Lebens.
Ist es schwierig, Menschen nahe zu kommen? Einige Menschen mit Grenzkonflikten verstecken sich hinter starren Grenzen. Obwohl dies eher ein Thema für AIDS zu sein scheint, kenne ich einige MS-Patienten, die ihre Angst vor Grenzüberschreitungen in extreme Zurückweisung verkehrt haben. Wenn man die Liebe und Nähe anderer im Leben vermißt, könnte man versuchen, Bewußtheit für die eigenen Ängste in bezug auf Nähe und Ausgeliefertsein zu entwickeln.
Wer erkrankt?
Die meisten von uns haben Probleme, die die Themen von MS betreffen, allerdings sind die meisten von uns gesund. Und zwar deshalb, weil wir normalerweise ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber den beschriebenen Problemen haben. Es sind die Menschen, die besonders unaufmerksam und fügsam sind, die vielleicht die Unterstützung des wahren Selbst benötigen, um das Leben zu meistern. Es ist paradox, daß ein System, welches Leben unterstützt, einen Menschen töten kann. Unsere Krankheiten erlauben uns, bestimmte Gefühle auszudrücken, aber sie können ihre eigene Dynamik entwickeln und uns töten, wenn wir es zulassen, indem wir zögern, von ihnen zu lernen.
Was können MS-Patienten tun?
MS-Patienten brauchen meistens professionelle psychotherapeutische Unterstützung, wenn sie ihre Krankheit überflüssig machen wollen. Gleichzeitig ist medizinische Behandlung sehr wichtig, um die Spastik zu reduzieren oder um einen Schub zu begrenzen. Mit psychotherapeutischer Unterstützung wird der MS-Patient lernen, alte, "vergessene" Gefühle zu integrieren und angemessene emotionale Grenzen herzustellen. Ich habe Menschen kennengelernt, die sich selbst auf diese Weise geheilt haben, und ich hoffe, daß mehr Menschen den Mut finden, diesen oft steinigen Weg zu gehen. Schließlich scheint die schmerzliche Erfahrung, alte Gefühle anzuschauen, klein zu sein verglichen mit einem langen Leben als behinderter Mensch.
Verwandte Krankheiten
Colitis ulcerosa und Morbus Crohn haben dieselbe zugrundeliegende Problematik mit der Grenzziehung, die statt im Nervensystem in den Därmen ausgelegt wird.
( Der Artikel des in Australien lebenden Psycho- und Körpertherapeuten ist 1989 unter dem Titel "The Underlying Cause of MS" in "Australian Wellbeing" Nr. 35 erschienen. Aus dem Englischen übersetzt wurde er von Sigrid Arnade in Anlehnung an eine Übersetzung von Anke Ramdohr-Antson. )
Schuld oder Verantwortung" von H.-Günter Heiden, Erstveröffentlichung Winter 1992/93
Schuld, Verantwortung, Schuldgefühle, Scham, schlechtes Gewissen, Versagen, Fehler - allein beim Schreiben dieser Substantive macht sich bei mir ein drückendes Gefühl in der Magengegend bemerkbar, ein Gefühl, das ich tausendfach erlebt und durchlebt habe, ein Gefühl mit unendlichen vielen dunklen Gesichtern - der "Stachel des Lebens", wie Oscar Wilde es einmal ausdrückte.
Gerade bei einer ganzheitlichen Betrachtung von Krankheit spielt der Komplex "Schuld/Verantwortung" eine wichtige Rolle. So lehnen viele Menschen eine psychosomatische Sichtweise ab, weil sie meinen, wenn auch das "Psychische" für das Entstehen und den Verlauf der Krankheit mitbedeutend ist, wenn die Krankheit eben nicht nur durch einen zufälligen Schicksalsschlag entstanden ist, dann sind sie auch "selbst schuld"!
Und wenn dem so ist, dann müßte die Krankheit, wenn sie es nur richtig macht, ja durch eigene psychische Anstrengungen auch wieder wegzukriegen sein. Wenn das wider Erwarten aber nicht klappt, haben sie sich nicht genug bemüht, haben sie schon wieder versagt, sind sie wieder "selbst schuld!" Ist dies wirklich so?
Zu eben dieser Frage "Schuld und Verantwortung bei der psychosomatischen Sichtweise" möchte ich Ihnen drei Texte vorstellen, die zwar schon einige Jahre alt sind, aber dennoch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Ich erhebe damit nicht den Anspruch, das Thema vollständig abzudecken, ich möchte Sie lediglich einladen, sich auf diese Frage mit Hilfe der Texte einmal einzulassen und darüber nachzudenken.
Beginnen möchte ich mit dem Buch "Aufbrechen. Schuld als Chance" von Heribert Fischedick. Danach folgt der Aufsatz von Verena Kast "Die Verantwortlichkeit des Patienten für die Krankheit-Konsequenzen psychosomatischer Sichtweise". Den Abschluß bildet der Essay von J. Michael Russel "In Ketten frei? - Über Sartre, Gestalttherapie und Verantwortung".
Fischedick ist Therapeut und Theologe zugleich und wurde in beiden Arbeitsbereichen zentral mit dem Erleben von Schuld und Schuldgefühlen konfrontiert. Er kennzeichnet das Erleben von Schuldgefühlen als einen mehrdimensionalen Vorgang, der sich sowohl auf der Verstandesebene ("das hättest du nicht tun dürfen") als auch der Körperebene (z. B. Empfindungen im Magen-Darmbereich) ausdrückt. "Gefühlsmäßig werden die Schuldgefühle als Spannungszustand erlebt, der auf Beseitigung drängt."
Durch diese Schuldgefühle, so Fischedick, werde Angst zur Triebfeder der Lebensführung, die dadurch aber eine außengesteuerte bleibe. Die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit und Identität werde verhindert. Im weiteren macht Fischedick eine wichtige Unterscheidung: Er trennt begrifflich das "materialistische" von dem "existenziellen Schuldverständnis".
Das materialistische Schuldverständnis orientiert sich am traditionellen moralischen System (Gott-Eltern-Gesellschaft), das Regelverstöße einer Autorität gegenüber streng ahndet und in einem dualistischen Weltbild nur "gut und böse" kennt. Schuld wird als Abweichen von einer vorgegebenen Norm gesehen. Die Folge ist die innere Zerrissenheit, "die darum weiß, den Forderungen nicht gewachsen zu sein und deshalb diesen Schatten ständig unterdrücken, verdrängen und verleugnen muß".
Im Gegensatz dazu steht das existenzielle Schuldverständnis, das Fischedick nach Erich Fromm auch das "humanistische Gewissen" nennt. ".... es ist die eigene Stimme, die in jedem Menschen spricht und die von keiner äußeren Strafe und Belohnung abhängt.... Handlungen, Gedanken und Gefühle, die ein richtiges Funktionieren und die Entfaltung unserer Gesamtpersönlichkeit fördern, rufen ein Gefühl der inneren Zustimmung, der Richtigkeit hervor".
Aus einem solchen Schuldverständnis ergibt sich nach Fischedick eine Lebensweise, in der der Mensch "sich nicht mehr als Erfüller von Handlungsanweisungen und als von Ängsten und Zwängen Getriebener (erlebt), der etwas tun oder sein MUSS, sondern als Persönlichkeit, die im Denken, Fühlen und Handeln sich selbst ausdrückt, also etwas tun und sein KANN."
Fazit: Schuldgefühle sind unvermeidbar, sie gehören zum Leben, ich muß jedoch unterscheiden lernen, aus welcher Art Schuldverständnis sie herrühren und versuchen, sie zu verstehen, sie anzunehmen und sie leben zu lassen. So kann ich Verantwortung für mein Leben übernehmen und nicht aus schlechtem Gewissen heraus in Selbstbekämpfung bzw. Autoaggression verfallen.
Verena Kast sieht in ihrem Aufsatz die Schuldgefühle als "Kehrseite der Verantwortung", die als Nebenwirkung des Paradigmenwechsels in der Medizin entstanden seien. Wenn in der Wissenschaft die ursprüngliche Sichtweise der Dualität Körper-Seele aufgegeben wurde und nun von einem fundamentalen Zusammenwirken von Körper und Psyche ausgegangen wird, so hat dies auch in der Alltagserfahrung der Patienten Konsequenzen und Nebenwirkungen: "Viele Menschen leben noch im alten Dualismus. Das bedeutet auch, daß man an körperlichen Krankheiten weniger, an psychischen bedeutend mehr schuld ist."
Bei einer neuen, einer psychosomatischen Sichtweise "wird das Kranke am Menschen, das, was ihn an seine Vergangenheit erinnert, nicht deligiert, sondern in die eigene Verantwortlichkeit genommen". Meine Krankheit hat etwas mit mir zu tun und wenn ich verantwortlich damit umgehe, sind folgende Fragen für mich wichtig: "Was bedeutet diese Krankheit gerade jetzt für mich? Welche Botschaften könnte sie mir geben? Wie kann ich mich in meiner Krankheit so wohl als möglich fühlen? Bringt sie eine notwendige Ruhepause? Wozu brauche ich die?"
Wenn diese Verantwortlichkeit aber so begriffen wird, daß es nicht mehr darum geht, wie ich mit meinem Körper umgehe, sondern wie das Fehlfunktionieren zu vermeiden gewesen wäre, gerate ich auf die andere Seite der Medaille: die Schuldgefühle. Sie rühren laut Kast von Allmachtsphantasien her, gehen von einer Vorstelllung der absoluten psychischen Verfügbarkeit aus: Das "Scheitern" (ist) vorprogrammiert und notgedrungen mit Schuldgefühlen verbunden.
Kast plädiert ebenfalls dafür, die Schuldgefühle nicht zu vermeiden, sondern einen sinnvollen Umgang mit ihnen zu erlernen. Ähnlich wie Fischedick unterscheidet sie zwischen existenziellen und neurotischen Schuldgefühlen. Erstere werden leicht in letztere umgedeutet. Folge: "Es wird nicht erkannt, daß das Schuldgefühl Ausdruck dafür ist, daß etwas Neues, eine Aufforderung zu neuem Leben an uns ergeht, sondern sie werden nun als Ausdruck eines Versäumnisses interpretiert.... Dieses Umdeuten .... ist einem Entwicklungsmodell verpflichtet, das nicht davon ausgeht, daß der Mensch sich stufenweise entwickelt, sondern daß von Anfang an alles perfekt sein und gelebt werden müßte."
"Im Hinblick auf den Umgang mit dieser neurotischen Form von Schuldgefühlen scheint mir dreierlei wichtig zu sein: Es ist auf die Wut anzusprechen, die die Krankheit ausgelöst hat und auf die damit verbundene Angst, zudem aber auch auf die existenziellen Schuldgefühle hinzuweisen, mit ihrer Funktion, uns unserer Existenz mehr und wesentlicher zu verbinden. Es muß deutlich werden, daß Schuldgefühle zur Verantwortlichkeit gehören."
Der Begriff der Verantwortung steht besonders im Essay von J. Michael Russel im Vordergrund. (Es handelt sich hierbei übrigens um einen Aufsatz, der bereits 1978 geschrieben und erst 1989 aus dem "American Journal of Psychoanalysis" übersetzt wurde.) Russel beginnt seinen Essay mit einem bemerkenswerten Zitat von Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie: "Solange man ein Symptom bekämpft, wird es schlimmer. Wenn man Verantwortung übernimmt für das, was man sich selber antut, dafür, wie man seine Symptome hervorbringt, wie man seine Krankheit hervorbringt - in dem Augenblick, in dem man mit sich selbst in Berührung kommt - ,beginnt das Wachstum, beginnt die Integration, die Sammlung."
Damit diese Worte von Perls aber nicht wieder den Effekt hervorrufen, daß man ja doch "selbst schuld" sei, wenn vom "Hervorbringen der Krankheit" die Rede ist, ist es wichtig, den Begriff der Verantwortung zu verstehen. Russel stützt sich dabei im Wesentlichen auf Gedanken von Satre, der sagt, daß der Mensch ".... was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich (ist) für die Welt und für sich selbst." Diesen Gedanken der Verantwortung verdeutlicht Russell durch vier Prinzipien:
- Ich bin verantwortlich für die Bedeutung, die ich meiner Situation gebe.
- Ich bin verantwortlich für das, was ich in Bezug auf meine Situation tue oder unterlasse.
- In der angegebenen Situation bin ich der, der ich entscheide zu sein und als der ich mich durch meine Handlungen konstituiere, auch dafür bin ich verantwortlich.
- Wenn sich Emotionen bzw. köperliche Zustände als mit Handlungen logisch verwandt betrachten lassen, dann bin ich in der gegebenen Situation auch verantwortlich für meine Gefühle bzw. körperlichen Zustände.
Zur Verdeutlichung des Begriffs der Verantwortung noch ein abschließendes Beispiel (nach Russel): "Wenn ich Kopfschmerzen habe, bin ich mit Sicherheit dafür verantwortlich, welche Bedeutung diese Schmerzen in meinem Leben bekommen ... Ich muß mich entscheiden, ob diese Kopfschmerzen so unerträglich sind, daß ich unmöglich heute mit meinem Therapeuten weiterarbeiten kann, auch wenn ich diese Schmerzen just in dem Moment entwickelt haben sollte, in dem wir mit der Exploration bestimmter Gefühle begannen, die ich bzgl. einer Person aus meiner Vergangenheit erfahren habe."
Bibliografische Angaben:
Heribert Fischedick: "Aufbrechen. Schuld als Chance", München, Kösel-Verlag 1988
Verena Kast: "Die Verantwortlichkeit des Patienten für die Krankheit", Niedersächsisches Ärzteblatt 20 und 21, 1986
J. Michael Russel: "In Ketten frei? Über Satre, Gestalttherapie und Verantwortung", PBZ-Publikationen, Heft 8, Würzburg 1989
Bestelladresse: Zentrum für Gestalttherapie, Kardinal-Döpfner-Pl. 1, Würzburg
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